1. Einleitung: Gleiche Schublade, andere Inhalte
Gerade in den 1980er und 1990er Jahren war es keine Seltenheit, dass Menschen Zeugen Jehovas und Mormonen in einem Atemzug nannten , oft aus Unkenntnis, manchmal aus Skepsis gegenüber „Missionaren an der Haustür“. Beide Gruppen traten öffentlich auf, hatten ein frommes, konservatives Auftreten, und wirkten für Außenstehende fremd, verbindlich, missionarisch. Doch hinter dieser Ähnlichkeit verbirgt sich eine ganz andere Struktur, Theologie und Sozialdynamik.
2. Parallelen – Woher die Verwechslung kam
Die folgenden Merkmale führten zur häufigen Gleichsetzung:

3. Unterschiede – Zwei Welten mit anderem Fundament
3.1 Theologisch
- Zeugen Jehovas: Eine bibeltreue, anti-trinitarische Gruppierung mit apokalyptischem Fokus. Keine eigene Offenbarung nach dem Neuen Testament – stattdessen Auslegung durch die „Leitende Körperschaft“.
- Mormonen: Eine neue „Offenbarungsreligion“ mit Zusatzschriften (Buch Mormon, Lehre und Bündnisse, Köstliche Perle). Trinität wird ebenfalls abgelehnt, aber Jesus gilt als „älterer Bruder“ – fast polytheistisch. Die Theologie ist eigenständig und extrem komplex.
3.2 Struktur & Kontrolle
- Zeugen Jehovas: Weltweit zentralistisch, autoritär organisiert. Die Leitende Körperschaft kontrolliert alles – Lehre, Verhalten, Ausschlüsse. Disziplinarrecht ist streng.
- Mormonen: Stärker föderal gegliedert. Zwar gibt es auch ein zentrales Apostelkollegium, doch die Gemeinden sind eigenverantwortlicher. Der Ausschlussprozess ist oft milder.
3.3 Umgang mit Kritik und Ausstieg
- Zeugen Jehovas: Harte Ächtung (Kontaktabbruch) bei Abwendung oder Kritik – selbst in Familien.
- Mormonen: Kontaktabbruch kommt vor, ist aber kein Dogma. Der soziale Druck ist stark, aber nicht so systematisch.
3.4 Verhältnis zur Wissenschaft und Bildung
- Zeugen Jehovas: Vorsichtige Skepsis. Akademische Bildung wird nicht gefördert, weltliche Bildung oft misstrauisch beäugt.
- Mormonen: Pro Bildung. Viele Mormonen haben Hochschulabschlüsse. BYU ist eine angesehene Universität.
3.5 Wandel und Öffnung
- Zeugen Jehovas: Strenge bleibt. Leichte Imagekosmetik (JW.ORG, Kongressvideos), aber kaum theologische oder strukturelle Reform.
- Mormonen: Deutliche Öffnung. Abschaffung der Polygamie (1890), mehr Frauenbeteiligung, Annäherung an gesellschaftliche Realitäten. 2018 wurde z. B. der Name „Mormonen“ offiziell abgelegt (trotz fehlender Umsetzung in der Praxis).
4. Exkurs: Polygamie bei den Mormonen – ein Schatten, der bleibt
Während Zeugen Jehovas von jeher eine konservativ-monogame Sexualmoral vertreten – mit strikten Regeln bis in den Ehealltag hinein –, war die Frühgeschichte der Mormonen tief durchzogen von der Praxis der Polygamie, also der Vielehe.
- Begründung: Joseph Smith, der Gründer, erklärte, Gott selbst habe ihm durch Offenbarung die Mehrehe geboten – als „höheres Gesetz“.
- Umsetzung: In den 1850er Jahren lebten viele führende Mormonen in plural marriage. Einige Männer hatten 10–20 Ehefrauen.
- Reaktion: Die US-Regierung sah darin eine Gefahr für Staat und Familie. Mehrere Gesetze (u. a. Edmunds-Tucker Act) führten schließlich zum Verbot.
- Offizielles Ende: 1890 verkündete Präsident Wilford Woodruff im „Manifest“, dass die Kirche die Polygamie aufgebe.
Doch:
- Fundamentalistische Splittergruppen wie die FLDS (z. B. unter Warren Jeffs) halten bis heute daran fest – mit teils massiven Missbrauchsskandalen.
- Theologisch ist die Vielehe nie vollständig widerrufen worden. Im Tempelwesen der HLT ist sie im Jenseitsmodell sogar weiterhin denkbar (Stichwort: Ewige Ehe).
➡ Im Vergleich zu den Zeugen Jehovas zeigt sich:
- Während bei den ZJ aktuelle Kontrolle das Hauptproblem ist, liegt bei den Mormonen historische Belastung vor – mit Nachwirkungen bis heute.
- Beide Gruppen regeln das Sexualleben ihrer Mitglieder detailliert, doch die mormonische Frühzeit war für viele Frauen mit starker Unterwerfung verbunden – oft unter Berufung auf göttliche Anweisung.
5. Wer ist gefährlicher? – Eine differenzierte Einschätzung
Beide Gruppen zeigen religiös-exklusive Strukturen mit dogmatischem Wahrheitsanspruch. Doch die psychische Belastung durch soziale Kontrolle, Angstnarrative und Isolation beim Ausstieg ist bei den Zeugen Jehovas signifikant höher.

Fazit: In der Tiefe der Kontrolle und psychologischen Dynamik sind die Zeugen Jehovas – Stand heute – gefährlicher einzuschätzen. Ihre geschlossene Struktur, der Ausschluss von Kritik und die systematische Ächtung machen sie für Mitglieder wie Angehörige besonders belastend.
6. Was sich geändert hat – und was bleibt
In der öffentlichen Wahrnehmung sind die Unterschiede heute klarer. Während die Mormonen um Image, Offenheit und Bildung bemüht sind, haben die Zeugen Jehovas in den letzten Jahren durch Missbrauchsskandale, harte Ausschlusspraxis und Internetberichte zunehmend negatives Aufsehen erregt. Trotzdem halten beide Gruppen an einem exklusiven Wahrheitsanspruch fest – und präsentieren sich missionarisch, freundlich, verbindlich.
7. Schlussgedanke
Die Gleichsetzung von Zeugen Jehovas und Mormonen mag früher verständlich gewesen sein, heute aber hilft nur Differenzierung.
Denn die Gefahr liegt oft nicht im freundlichen Auftreten – sondern in der Art, wie man mit Abweichung, Zweifel und eigenem Gewissen umgeht.