Was sagt die Wissenschaft? Gesundheit und Wohlbefinden ehemaliger Zeugen Jehovas
Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/13674676.2023.2255144?needAccess=true
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13674676.2023.2255144#abstract
Die psychischen, physischen und sozialen Folgen eines Lebens in einer hochkontrollierten religiösen Gruppe sind vielfältig. Doch erst seit Kurzem liegen dazu auch empirische Daten vor. Eine Studie aus Österreich, durchgeführt an der Universität Wien und der Universität Zürich (2023), legt nun systematisch dar, wie es ehemaligen Mitgliedern der Zeugen Jehovas geht – insbesondere im Hinblick auf ihre psychische Gesundheit, ihr Sozialleben und ihr Empfinden von Kontrolle über das eigene Leben.
Die Studie im Überblick
Die Untersuchung trägt den Titel „Merkmale der Gesundheit und des Wohlbefindens ehemaliger Zeugen Jehovas in Österreich“ und basiert auf einer Stichprobe von 424 Personen – davon 68,6 % explizit ehemalige Zeugen Jehovas (die restlichen Teilnehmenden zählten sich zu verwandten Gruppen oder zum erweiterten Umfeld). Die Ergebnisse wurden anonymisiert, statistisch aufbereitet und im Fachjournal International Journal for the Psychology of Religion publiziert.
Zentrale Ergebnisse
● Häufige psychische Belastung
- 65 % berichteten über behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen nach dem Ausstieg.
- Über 50 % erlebten anhaltende Gefühle von Angst, Schuld, Scham oder Entfremdung.
- Der Anteil an Personen mit Suizidgedanken oder -versuchen war signifikant höher als in der Durchschnittsbevölkerung.
● Trauma durch Kontrolle und Ausschluss
- Viele Teilnehmende berichteten von Kindesmisshandlung, emotionaler Erpressung und Isolation.
- Der sog. „Gemeinschaftsentzug“ wirkte wie ein sozialer Tod: Der abrupte Verlust des gesamten Umfelds, inklusive Familie, wird als zentral traumatisch beschrieben.
● Verlust und Wiedergewinnung von Selbstbestimmung
- Die Organisation wird von den meisten als lebensbeherrschend wahrgenommen: Entscheidungen zu Bildung, Beruf, Beziehungen und Medizin seien nie frei gefallen.
- Erst mit dem Ausstieg wurde das Erleben von Autonomie und individueller Identität wieder möglich.
Wissenschaftliche Einordnung
Die Forscher:innen betonen, dass es sich nicht um eine repräsentative Stichprobe handelt, sondern um eine bewusst ausgewählte Gruppe mit Ausstiegserfahrung. Dennoch zeigen die Daten ein klares Muster:
Je intensiver die Bindung an die Organisation, desto gravierender die psychischen und sozialen Folgen nach dem Austritt.
Diese Korrelation ist signifikant und deckt sich mit Erkenntnissen aus der Sektenforschung, die bei Hochkontrollgruppen („High Control Groups“) ähnliche Muster beobachtet.
Kommentar:
Was viele Ehemalige über Jahre gefühlt haben, bekommt hier ein statistisches Fundament: Der Preis für die Zugehörigkeit zur Organisation der Zeugen Jehovas ist hoch – und er wird oft erst nach dem Ausstieg sichtbar.
Die Kombination aus sozialer Isolation, Angsttheologie, psychologischer Kontrolle und familiärer Erpressung führt nicht selten zu einem Zustand, den Betroffene selbst als „religiöses Trauma“ beschreiben. Die Tatsache, dass ein Austritt nicht als individueller Entscheidungsprozess, sondern als „Abfall von der Wahrheit“ gewertet wird, verunmöglicht eine gesunde Distanzierung.
Diese Studie zeigt: Es geht nicht um Einzelfälle. Es geht um Strukturen. Und die verdienen Aufmerksamkeit, Schutzkonzepte und Aufarbeitung – nicht nur für Kinder, sondern für alle, die gelernt haben, dass freie Gedanken gefährlich sind.
Gesamte-Studie:
1. Einleitung
Es existiert nur wenig quantifizierbares Wissen über Personen, die eine Ausgrenzung aus einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft (z. B. die Zeugen Jehovas, Neuapostolische Kirche, Siebenten‑Tags‑Adventisten) durchlaufen haben – eine Ausnahme bildet Ransom et al. (2021). Der Austritt oder Ausschluss aus solchen Gruppen stellt häufig ein hoch belastendes Erlebnis dar (Ransom et al., 2022; Scheitle & Adamczyk, 2010). Ausgeschlossene oder ausgeschiedene Mitglieder werden oft als besonders vulnerabel hinsichtlich langfristiger physischer und psychischer Folgen betrachtet (Buxant & Saroglou, 2008; Fenelon & Danielsen, 2016; Hookway & Habibis, 2015; Illig & Kaufmann, 2020; Namini & Murken, 2009).
Ziel dieses Projekts war es, quantifizierbare Daten zu Gesundheit, Wohlbefinden und Resilienz von Ex-Mitgliedern fundamentaler christlicher Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum (Österreich, Deutschland, Schweiz) zu erheben. Durch Kombination qualitativer Interviews und quantitativer Online-Befragungen sollte identifiziert werden, wer besonders gefährdet ist und welche Faktoren Einfluss haben.
Ein Schwerpunkt lag auf den ehemaligen Zeugen Jehovas, da sie rund 68 % der Gesamtstichprobe stellten. Neben allgemeinen Erkenntnissen wurden vor allem Merkmale von Untergruppen mit hohem Risiko (z. B. Frauen, Missbrauchsüberlebende, unfreiwillig Ausgeschlossene) beleuchtet.
2. Methode
Studiendesign
Die Erhebung fand an der Universität Zürich (Hauptstandort) in Kooperation mit der Universität Wien statt. Die Ethikkommissionen der Universität Wien (ID 00662), der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (ID 2021‑01‑08VA) und der Universität Zürich (ID 20.12.18) genehmigten das Vorhaben. Die Teilnahme war freiwillig, anonym und wurde online über Unipark (QuestBack) durchgeführt. Ein schriftliches Einverständnis wurde eingeholt, eine finanzielle Vergütung fand nicht statt.
Rekrutierung und Stichprobe
Teilnahmebedingungen: ehemalige Mitgliedschaft in einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft, Alter ≥ 18 Jahre, Deutsch auf Muttersprachniveau, Wohnsitz in AT/DE/CH. Die Rekrutierung erfolgte von Februar bis Juni 2021 über persönliche Kontakte, Social Media (Facebook, YouTube), Ex-Mitgliedsnetzwerke und Selbsthilfegruppen.
Die vorliegende Analyse fokussiert auf die 424 Teilnehmenden, die ehemalige Zeugen Jehovas sind (68 % der Gesamterhebung).
Erhobene Maße
- Soziodemografie: Alter, Geschlecht, Beziehungsstatus, Bildungsniveau, Erwerbstätigkeit, Einschätzung der finanziellen Lage.
- Mitgliedschaft / Austritt: Eintrittsmodus, Dauer der Mitgliedschaft, Alter beim Eintritt, Gründe für Austritt oder Ausschluss.
- Kindheitsmisshandlung: Childhood Trauma Questionnaire (CTQ; 5 Subskalen, 25 Items, Skala 1–5). Reliabilitäten: α .59–.96.
- Aktueller Stress: PSS‑10 (10 Items, 0–4; α = .90), Stress-NRS-11 (0–10).
- Wohlbefinden: WHO‑5 Index (5 Items, 0–5; α = .89).
- Körperliche & psychische Gesundheit:
- SF‑36 Einzelitem („Allgemeiner Gesundheitszustand“, Skala 1 = sehr gut bis 5 = schlecht),
- Brief Symptom Inventory (BSI Global Severity Index, 53 Items, T‑Scores, α = .97),
- Diagnosen, therapeutische Betreuung, Medikamenteneinnahme und chronische Erkrankungen.
Statistische Auswertung mit SPSS 26 und R 4.1.3. T‑Tests, ANOVAs, Korrelationen. Signifikanz bei p < .05.
3. Ergebnisse
Soziodemografische Daten
- Alter: M = 42,14 Jahre (SD = 12,57; Range 19–83)
- Geschlecht: 65 % weiblich
- Wohnsitz: 87 % Deutschland, 8 % Schweiz, 5 % Österreich
- Beziehungsstatus: 39 % verheiratet, 26 % in Beziehung, anderer Status s. Tabelle
- Bildung: 20 % Universitätsabschluss
- Beschäftigung: 72 % erwerbstätig
- Finanzzufriedenheit: 31 % unzufrieden oder sehr unzufrieden
Kindheitsmisshandlung
- Emotional neglect: 81 %
- Physische Vernachlässigung: 33 %
- Emotionaler Missbrauch: 65 %
- Physischer Missbrauch: 34 %
- Sexueller Missbrauch: 18 %
Frauen berichteten signifikant höhere Werte in emotionalem, physischem und sexuellem Missbrauch als Männer (alle p < .05).
Mitgliedschaft und Ausstieg
- Alter beim Eintritt: überwiegend als Kind (66 %)
- Austritt: 50 % freiwillig, 21 % exkommuniziert, 31 % aufgrund von Missbrauch/ Misshandlung
- Zeit seit Austritt: D = 12,6 Jahre, S = 10,6, Range 0–63 Jahre
Gesundheit, Stress, Wohlbefinden
- Allgemeiner Gesundheitszustand (SF‑36): M = 3,08 (SD = .96) – moderat
- Chronische Erkrankung: 43 % (36 % davon moderat bis sehr stark beeinträchtigt)
- Medikamente: 36 % regelmäßig
- BSI Global Severity Index: T‑Mittelwert = 72, klinisch signifikante Beschwerden bei 63 % (T > 62). Frauen signifikant stärker belastet (69 % vs. Männer 51 %)
- Suizidalität: 33 % Gedanken, 10 % Suizidversuch
- Aktueller Stress: PSS‑10 M = 19,39 (SD = 7,89); Stress‑NRS‑11 M = 5,36
Frauen deutlich stärker belastet als Männer (p < .001) - Lebensqualität (WHO‑5): M = 11,26 (SD = 6,00), niedriger bei Frauen (p = .020)
Austrittsursachen vs. psychische Outcomes
- Eigene Gründe: weniger Stress (M = 18,15), höhere Lebensqualität (M = 12,15)
- Exkommunikation & Missbrauch: höhere Stressbelastung, mehr psychisch-pathologische Symptome (z. B. Trauma-Gruppe: BSI T = 59,95, CTQ = 67,17) – signifikante Gruppenunterschiede via ANOVA (p < .05)
Zeit seit Austritt
- Längere Zeit seit Austritt korrelierte mit besserer psychischer Gesundheit (r = −.105, p = .031), aber nicht mit Lebensqualität oder Stress.
4. Diskussion
- Hohe psychische Belastung – Viele ehemalige Zeugen Jehovas zeigen moderat bis starke gesundheitliche Einschränkungen, hohe Stresslevel, niedrige Lebensqualität und suizidale Tendenzen.
- Frauen besonders betroffen – Signifikant mehr Pathologie, Stress und Missbrauchserfahrungen.
- Missbrauchserfahrungen prägen das Wohlbefinden – Personen, die wegen erlebtem Missbrauch ausschieden, berichten über besonders schwere psychische Belastungen.
- Verarbeitungszeit relevant – Je länger der Abstand zum Austritt, desto besser die psychische Gesundheit.
- Bedürfnis nach zielgerichteter Unterstützung – Gerade betroffene Frauen und Trauma-Überlebende benötigen niedrigschwellige Hilfsangebote, da soziale Ächtung und Stigma die Hilfesuche erschweren.
Konklusion & Implikationen
Ehemalige Zeugen Jehovas, insbesondere Frauen und Trauma-Betroffene, stellen eine signifikant gefährdete Gruppe dar: Sie weisen hohe psychische Belastungen und niedrige Lebensqualität auf. Langzeitstudien könnten weiter Aufschluss über Erholungsprozesse geben, und Fachkräfte sollten sensitiv für die spezifischen Bedürfnisse dieser Gruppe sein. Professionelle Hilfsangebote sollten passgenau entwickelt und Stigmatisierung aktiv adressiert werden.
Rechtlicher Hinweis zur Verwendung wissenschaftlicher Inhalte
Dieser Beitrag enthält wörtliche und sinngemäße Zitate aus der wissenschaftlichen Studie:
Kölbl, S., Wagner, U., & Schnell, T. (2023). Characteristics of Health and Well-Being of Former Jehovah’s Witnesses in Austria. International Journal for the Psychology of Religion.
DOI: 10.1080/13674676.2023.2255144
Die Inhalte werden im Rahmen der journalistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung unter Beachtung des Zitatrechts gemäß § 51 UrhG verwendet. Sie dienen der kritischen Kontextualisierung, öffentlichen Aufklärung und fachlichen Diskussion. Es erfolgt keine kommerzielle Nutzung.
Die Rechte an der Originalpublikation liegen bei den jeweiligen Autor:innen und dem Verlag (Taylor & Francis Group).
Die redaktionelle Kommentierung und Zusammenfassung auf hellereslicht.de erfolgt mit dem Ziel, Erkenntnisse aus der Religions- und Gesundheitsforschung einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zugänglich zu machen.
Für Hinweise auf sachliche Fehler oder notwendige Ergänzungen steht die Redaktion gerne zur Verfügung.