Die Geschichte der Zeugen Jehovas ist geprägt von theologischen Brüchen, Machtkämpfen und autoritärer Zentralisierung. Aus adventistischen Wurzeln hervorgegangen, formte Charles T. Russell zunächst eine pluralistisch geprägte Bibelforscherbewegung. Nach seinem Tod übernahm der Jurist Joseph F. Rutherford mit juristischen Mitteln die Führung, zentralisierte die Organisation und prägte viele bis heute gültige Dogmen – inklusive der Einführung des Namens „Zeugen Jehovas“. Der Anspruch göttlicher Alleinvertretung steht dabei im Kontrast zur dokumentierten menschlichen Machtgeschichte der Bewegung. Dieser Beitrag schafft eine Grundlage für das Verständnis späterer Analysen auf dieser Webseite.
Einleitung:
Viele Menschen, die mit den Lehren der Zeugen Jehovas nicht vertraut sind, begegnen der Organisation mit Unsicherheit oder vagen Eindrücken. Dieser Beitrag bietet eine sachliche, theologisch fundierte und historisch eingeordnete Einführung in zentrale Lehren und in die Entwicklungsgeschichte dieser Glaubensgemeinschaft. Ziel ist es, in den folgenden Kapiteln dieser Webseite auf dieser Grundlage aufbauen zu können. Die Darstellungen beruhen auf öffentlich zugänglichen Quellen, historisch belegten Ereignissen und offiziellen Publikationen der Organisation.
1. Was glauben Zeugen Jehovas? Zentrale Lehren im Überblick
Die nachfolgende Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, benennt jedoch zentrale theologische Unterschiede zu anderen christlichen Konfessionen. Sie konzentriert sich auf jene Lehren, die das Selbstverständnis und die religiöse Praxis der Zeugen Jehovas maßgeblich prägen:
- Ablehnung der Trinität: Für Jehovas Zeugen ist Jehova allein der allmächtige Gott. Jesus Christus gilt als erstes Geschöpf Gottes, ein Engel, nicht jedoch als Gott selbst. Der Heilige Geist wird nicht als eigenständige Person, sondern als „wirksame Kraft Gottes“ verstanden.
- Sterblichkeit der Seele: Die Organisation lehnt die Vorstellung einer unsterblichen Seele ab. Der Mensch ist demnach eine Seele und hört mit dem Tod auf zu existieren. Nur durch eine Auferstehung kann Gott Leben erneut schenken.
- Endzeiterwartung: Jehovas Zeugen glauben, dass wir uns derzeit in der sogenannten „Zeit des Endes“ befinden. Biblische Zeichen wie Kriege, Naturkatastrophen und moralischer Verfall deuten ihrer Lehre nach auf das baldige Eingreifen Gottes hin.
- Exklusive Rettungserwartung: Harmagedon wird als künftiges Gericht verstanden, in dem nur „wahre Anbeter“ – gemeint sind Zeugen Jehovas – überleben werden. Ein Teil von ihnen, die „144.000“, soll in den Himmel kommen, die übrige „große Volksmenge“ auf einer paradiesischen Erde leben.
- Leitende Körperschaft: Die heutige Führung der Organisation liegt bei einem Gremium von Männern in den USA, das sich selbst als „treuer und verständiger Sklave“ (nach Matthäus 24) bezeichnet und exklusiv die Auslegungshoheit über alle Glaubensfragen beansprucht.
Dynamik der Lehre und das Konzept des „helleren Lichts“
Die Glaubenslehren der Zeugen Jehovas unterliegen einem fortlaufenden Wandel, der innerhalb der Organisation als Ausdruck „heller werdenden Lichts“ interpretiert wird. Damit wird begründet, dass auch zentrale Dogmen im Laufe der Zeit revidiert oder neu ausgelegt werden können – stets mit dem Anspruch, damit Gottes Willen besser zu erkennen.
2. Historischer Hintergrund: Von den Bibelforschern zu Jehovas Zeugen
Die Anfänge der Bewegung reichen in die 1870er Jahre zurück. Der Kaufmann Charles Taze Russell aus Pennsylvania gründete eine Bibelstudiengruppe, die sich intensiv mit biblischen Prophetien und Endzeitfragen beschäftigte – stark beeinflusst durch adventistische Ideen, insbesondere durch die Lehren von William Miller und Nelson H. Barbour. Viele der frühen Mitglieder stammten selbst aus adventistischen Kreisen, und Russell veröffentlichte zunächst in der Zeitschrift The Herald of the Morning, die von Nelson H. Barbour herausgegeben wurde. Diese Zeitschrift kann als unmittelbarer publizistischer Vorläufer des Wachtturms gelten. Die Zusammenarbeit zwischen Barbour und Russell mündete 1877 in der gemeinsamen Herausgabe des Buches Three Worlds, and the Harvest of This World.
Nach theologischen Differenzen insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des Loskaufsopfers Christi trennten sich ihre Wege. Russell gründete daraufhin 1879 die Zeitschrift Zions Wacht-Turm und Verkündiger der Gegenwart Christi, die später zum Leitorgan der Bibelforscherbewegung wurde und heute als Der Wachtturm weltweit verbreitet ist.

1881 wurde die Watch Tower Bible and Tract Society gegründet. Viele frühere Lehren (z. B. zur Chronologie biblischer Zeitalter, zu den 144.000 oder zum Weltende) wurden unter Russell entwickelt und später weitergeführt. Russell selbst verfasste sechs umfangreiche Bände unter dem Titel Schriftstudien, die seine Auslegung darstellten.
In Laufe der Zeit kam es zu 1 Schisma/Abspaltungen bei den Bibelforschern, schon 1909 trennten sich viel Bibelforscher von Charles T. Russell Lehren, da sie mit einige Änderungen der Lehren nicht konform gingen. Sie gründeten daraufhin die auch heute noch existierenden „Freien Bibelforscher“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Bibelforscher
Charles T. Russell veröffentlichte seine Lehren nicht nur über die Zeitschrift Der Wachtturm, sondern insbesondere in den sechs Bänden der Reihe Schriftstudien, die innerhalb der frühen Bibelforscherbewegung als zentrales Lehrwerk galten.
- Band 1: Der Plan der Zeitalter (später: Der göttliche Plan der Zeitalter) – veröffentlicht1886
- Band 2: Die Zeit ist herbeigekommen – veröffentlicht 1889
- Band 3: Dein Königreich komme – veröffentlicht 1891
- Band 4: Der Tag der Rache (später: Der Krieg von Harmagedon) – veröffentlicht 1897
- Band 5: Die Versöhnung des Menschen mit Gott – veröffentlicht 1899
- Band 6: Die Neue Schöpfung – veröffentlicht 1904
Nach seinem Tod im Jahr 1916 erschien ein siebter Band unter dem Titel „Das vollendete Geheimnis“ (The Finished Mystery, 1917), der offiziell als posthumes Werk Russells ausgegeben wurde. Tatsächlich wurde dieser Band jedoch nicht von Russell selbst verfasst, sondern maßgeblich von Clayton J. Woodworth und George H. Fisher unter der redaktionellen Aufsicht von Joseph F. Rutherford, dem neuen Präsidenten der Watch Tower Society.
Der siebte Band unterscheidet sich sowohl stilistisch als auch inhaltlich deutlich von den früheren Schriftstudien. Er enthält apokalyptische Auslegungen, politische Angriffe und konkrete Anweisungen, die vielen von Russells Grundsätzen widersprachen. Rutherford nutzte dieses Werk gezielt, um seinen autoritären Führungsstil und organisatorische Umstrukturierungen im Nachhinein mit der Autorität Russells zu legitimieren ein Schritt, der zu erheblichen Spannungen führte und zur ersten großen Spaltung der Bewegung beitrug.
Der Band wurde später still aus dem offiziellen Lehrbestand entfernt und wird von den heutigen Zeugen Jehovas nicht mehr verwendet.
(Quelle: Buch Rutherford’s Coup: The Watch Tower Succession Crisis of 1917 and Its Aftermath)
3. Rutherfords Machtübernahme: Juristische Taktik statt testamentarischem Auftrag
Nach dem Tod Charles T. Russells im Oktober 1916 wurde Joseph Franklin Rutherford, ein ausgebildeter Jurist und langjähriger Rechtsberater der Organisation, 1917 zum Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society gewählt. Diese Wahl war jedoch weder ausdrücklich testamentarisch vorgesehen noch frei von internen Spannungen. Russell selbst hatte in seinem Testament ein Gremium aus fünf Treuhändern für die Leitung der Gesellschaft benannt – nicht aber eine Einzelperson als Nachfolger.
Rutherford gelangte dennoch an die Spitze, indem er sich auf formale Satzungsklauseln berief und juristisch geschickt argumentierte, dass eine Neuwahl erforderlich sei. Dabei setzte er sich gegen andere Mitglieder des Vorstands durch – insbesondere gegen vier Direktoren, die seine Machtfülle infrage stellten. Wenige Monate nach seiner Amtsübernahme ließ er diese vier Vorstandsmitglieder unter juristisch umstrittenen Bedingungen absetzen. Die frei gewordenen Positionen besetzte er mit loyalen Unterstützern – eine Taktik, die aus politischen oder unternehmerischen Machtübernahmen bekannt ist: Zentralisierung durch Ausschaltung interner Opposition.
Diese autoritäre Neuordnung markierte einen fundamentalen Bruch mit dem pluralistischeren, dezentraleren Führungsstil Russells. Während dieser sich als Herausgeber und geistiger Lehrer verstand, formte Rutherford die Organisation in den folgenden Jahren zu einer strikt hierarchisch geführten Bewegung, in der Lehrmeinung und organisatorische Struktur ausschließlich von der Spitze vorgegeben wurden.
4. Rutherfords Umbruch: Zentralisierung und Dogmenwandel
Die Folgen dieser Entwicklung waren gravierend:
Etwa 4.000 von damals rund 18.000 aktiven Bibelforschern trennten sich in den Jahren nach 1917 von der Organisation. Viele gründeten eigene Gemeinschaften darunter die heutigen Ernsten Bibelforscher, die sich bis heute explizit auf das geistige Erbe Russells berufen und Rutherfords autoritäre Kursänderung ablehnen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ernste_Bibelforscher
- Die Organisation wurde zentralistisch aufgebaut
- Haus-zu-Haus-Predigtdienst wurde verpflichtend eingeführt
- Viele Bräuche (Geburtstag, Weihnachten etc.) wurden verboten
- Abschaffung des Kreuzsymbols
- Neue Dogmen (z. B. „helleres Licht“ = progressive Offenbarung) wurden eingeführt
- insgesamt kam es zu 148 Änderungen der Lehre!
Infolge dieser Änderungen kam es also zu mehreren Abspaltungen. Gruppen wie die Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung oder die Laien-Heim-Missionsbewegung bestehen bis heute.

- https://de.wikipedia.org/wiki/Tagesanbruch_Bibelstudien-Vereinigung
- https://de.wikipedia.org/wiki/Laien-Heim-Missionsbewegung

Grafik: „Development of Bible Students“ von Phoenix B 1, lizenziert unter CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Rutherford versuchte, einige seiner Änderungen nachträglich als den Willen Charles T. Russells darzustellen. Zu diesem Zweck ließ er 1917 einen siebten Band der Schriftstudien veröffentlichen – Das vollendete Geheimnis –, der angeblich aus dem literarischen Nachlass Russells stammen sollte. Tatsächlich wurde dieses Werk jedoch erst nach dessen Tod verfasst und enthält zahlreiche Inhalte, die mit Russells früheren Schriften nur schwer vereinbar sind.
Rutherfords Führungsstil war autoritär und unterschied sich damit deutlich vom eher kooperativen Ansatz seines Vorgängers C. T. Russell. Im Jahr 1931 wurde unter seiner Leitung die Bezeichnung „Zeugen Jehovas“ eingeführt – als bewusste Abgrenzung gegenüber anderen Bibelforschergruppen. Mit dieser Namensänderung einher ging eine tiefgreifende theologische und strukturelle Neujustierung: Fortan wurde die Vorstellung etabliert, dass einzig die Organisation – vertreten durch ihre zentrale Führung – als Sprachrohr Gottes auf Erden fungiere. Diese autoritäre Wendung prägte das Selbstverständnis der Gemeinschaft bis heute.
Joseph F. Rutherford, Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society von 1917 bis 1942, führte im Vergleich zu seinem Vorgänger Charles T. Russell einen deutlich repräsentativeren Lebensstil. Bereits zu seiner Zeit wurde dieser sowohl innerhalb der Bewegung als auch von außen kritisch kommentiert.
Rutherford residierte im Brooklyn Bethel, dem damaligen Hauptsitz der Organisation in New York. Darüber hinaus standen ihm weitere Unterkünfte zur Verfügung, darunter ein Anwesen in San Diego, Kalifornien, das unter dem Namen „Joseph F. Rutherford, Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society von 1917 bis 1942, führte im Vergleich zu seinem Vorgänger Charles T. Russell einen deutlich repräsentativeren Lebensstil. Bereits zu seiner Zeit wurde dieser sowohl innerhalb der Bewegung als auch von außen kritisch kommentiert.
Joseph F. Rutherford, Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society von 1917 bis 1942, führte im Vergleich zu seinem Vorgänger Charles T. Russell einen deutlich repräsentativeren Lebensstil. Bereits zu seiner Zeit wurde dieser sowohl innerhalb der Bewegung als auch von außen kritisch kommentiert.

Foto: Joseph F. Rutherford
Rutherford residierte im Brooklyn Bethel, dem damaligen Hauptsitz der Organisation in New York. Darüber hinaus standen ihm weitere Unterkünfte zur Verfügung, darunter ein Anwesen in San Diego, Kalifornien, das unter dem Namen „Beth Sarim“ bekannt wurde. Dieses wurde offiziell errichtet, um der erwarteten Rückkehr biblischer „Fürsten“ nach 1925 Rechnung zu tragen (vgl. Salvation, 1939, S. 311–314). Da diese Erwartung sich nicht erfüllte, nutzte Rutherford das Anwesen selbst – inklusive der dort gebotenen Annehmlichkeiten.
Mehrere zeitgenössische Quellen berichten, dass ihm ein Chauffeur und Fahrzeuge wie ein Cadillac zur Verfügung standen – für die damalige Zeit ein deutliches Zeichen von Status. Auch sein Weggefährte A. H. Macmillan, selbst ein loyaler Funktionär der Organisation, beschrieb Rutherfords Auftreten mit einem gewissen Augenzwinkern:
„Er war ein Mann von Format, einflussreich und sicher nicht der Typ, der mit dem Fahrrad zum nächsten Königreichssaal gefahren wäre.“
(Faith on the March, 1957)
Bereits in den 1930er Jahren wurde öffentlich diskutiert, ob dieser Lebensstil mit dem von der Organisation propagierten Ideal geistlicher Bescheidenheit vereinbar sei. Einzelne Zeitungen griffen das Thema auf, darunter die San Diego Sun in einem Artikel vom 4. Januar 1931.
5. Organisationelle Prägung bis heute
Mit Rutherfords Tod 1942 war die zentralistische Struktur der Organisation voll etabliert. Der Begriff „theokratische Organisation“ beschreibt dabei den Anspruch, direkt von Gott geleitet zu sein. Die heute als „Leitende Körperschaft“ bekannte Führungseinheit entstand in ihrer jetzigen Form in den 1970er Jahren und hat seither die alleinige Lehrautorität.
Fazit
Die Lehren und die Geschichte der Zeugen Jehovas sind das Ergebnis komplexer theologischer Entwicklungen, institutioneller Machtkonsolidierung und zahlreicher Dogmenwechsel. Der Anspruch, einzig göttlich legitimiert zu sein, kontrastiert mit der historisch belegbaren Entstehung der Organisation aus adventistischen Strömungen und innerorganisatorischen Machtverschiebungen. Diese Einordnung hilft, spätere Kapitel auf dieser Seite besser zu verstehen – besonders dort, wo es um Gewissensfragen, geistige Autonomie und den Umgang mit religiösem Absolutheitsdenken geht.
Dieser Beitrag dient der journalistischen und theologisch fundierten Auseinandersetzung mit öffentlich dokumentierten Vorgängen der Wachtturm-Gesellschaft. Alle Zitate dienen der kritischen Analyse gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht). Alle genannten Gruppennamen und Begriffe sind eingetragene Bezeichnungen der jeweiligen Organisationen und werden hier ausschließlich im Rahmen zulässiger Berichterstattung nach § 50 UrhG und § 5 GG verwendet.
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