Kommentar zur Wachtturm-Aussage vom 1. Juli 2010

Kommentar zur Wachtturm-Aussage vom 1. Juli 2010 (S. 6–7):

„Als abtrünnige Christen Kopien der Christlichen Griechischen Schriften anfertigten, entfernten sie offensichtlich den Eigennamen Jehovas aus dem Text und ersetzten ihn durch Ky′rios, das griechische Wort für ‚Herr‘.“

Diese Behauptung ist keine Auslegung, sondern eine unhaltbare historische Konstruktion, für die es nicht den geringsten Beleg gibt – weder in den ältesten griechischen Manuskripten noch in der neutestamentlichen Textforschung. Es existiert kein einziges antikes Manuskript, in dem an den betreffenden Stellen ursprünglich „Jehova“ stand. Vielmehr ist in allen erhaltenen Handschriften der griechische Ausdruck κύριος (Kyrios) oder θεός (Theos) belegt – und zwar durchgängig.

Was sagt die Wissenschaft dazu?

  • Kein anerkannter Textforscher (nicht einmal konservativ-evangelikale) bestätigt die These, dass „Jehova“ im Urtext des Neuen Testaments gestanden habe.
  • Die Behauptung, dass „abtrünnige Christen“ den Gottesnamen getilgt hätten, ist reine Fantasie – ohne Belege, ohne Quellen, ohne Manuskriptnachweis.
  • Sie widerspricht dem Kanonbewusstsein und der Textüberlieferung der frühen Kirche, deren Kopisten nachweislich äußerst konservativ vorgingen, insbesondere bei Gottesbezeichnungen.

Was ist der Zweck dieser Falschbehauptung?

Die Wachtturm-Gesellschaft braucht dieses Narrativ, um die rund 237-malige Einfügung des Namens „Jehova“ in ihre eigene NT-Übersetzung (Neue-Welt-Übersetzung) zu legitimieren – obwohl dieser Name in keinem einzigen NT-Manuskript vorkommt.

Diese Einfügung ist kein Rückübersetzen, sondern eine willkürliche redaktionelle Manipulation, die das Ziel verfolgt, die exklusive Verwendung des Namens Gottes im Sinne der eigenen Lehre zu rechtfertigen – insbesondere zur Abgrenzung von allen anderen Christen.

Juristisch-theologisch formuliert:

Die zitierte Aussage aus dem Wachtturm erfüllt bei nüchterner Betrachtung die Kriterien einer dogmatisch motivierten Geschichtsfälschung:

  • Sie stellt eine Tatsachenbehauptung auf, die nicht belegt werden kann.
  • Sie verleumdet historische Christen als „abtrünnig“, ohne Beleg und ohne Differenzierung.
  • Sie überschreibt den wissenschaftlichen Konsens durch interne Legitimationslogik.

Psychologisches Framing: Die Schuld der „Abtrünnigen“

Die Bezeichnung „abtrünnige Christen“ dient dazu, einen Sündenbock für die Abweichung vom WTG-Dogma zu schaffen. Die Rhetorik folgt einem Muster:

BegriffPsychologische Funktion
AbtrünnigeDiffamierung jeder außerhalb der Organisation stehenden christlichen Tradition
Entfernten „offensichtlich“ den NamenBehauptung von Vorsatz, um moralische Entrüstung zu erzeugen
Kyrios = ErsatzAbwertung der christologischen Tradition, in der Christus als Herr verehrt wird

In Wahrheit war die Verwendung von Kyrios für Gott kein Ersatz, sondern Ausdruck einer gewachsenen theologischen Sprache des Urchristentums, die stark vom Judentum geprägt war (vgl. Septuaginta-Tradition).


Fazit:

Diese Aussage ist nicht nur wissenschaftlich unhaltbar, sondern ideologisch gefährlich. Sie suggeriert eine Verschwörung der „abtrünnigen Christen“ gegen die Wahrheit – ein klassisches Sektennarrativ.
Wer sich wirklich mit neutestamentlicher Textüberlieferung beschäftigt, erkennt:
Hier wurde nicht „Jehova“ entfernt. Hier wird er künstlich eingefügt.