Die Bibel vs Neue-Welt-Übersetzung

Zusammenfassung (1 Minute Lesezeit):

Der Beitrag beleuchtet kritisch die Entstehung des biblischen Kanons und stellt heraus, dass die Zeugen Jehovas sich paradoxerweise auf eine Bibel stützen, die von genau jener Kirche zusammengestellt wurde, die sie ablehnen. Besonders im Fokus: die Neue-Welt-Übersetzung, in der der Name „Jehova“ im Neuen Testament eingefügt wird – obwohl in keinem einzigen antiken Manuskript dieser Name auftaucht. Viele Lehren der Zeugen Jehovas finden sich eher in apokryphen Schriften als im offiziellen Kanon. Der Text zeigt: Die Verwendung des Gottesnamens basiert auf Wunschdenken, nicht auf Quellen – und wirft damit ein Licht auf die ideologische Konstruktion dieser Bibelversion.

Beginnen wir mit einer grundlegenden Beobachtung: Die Bibel, wie wir sie heute kennen, ist kein einheitliches Buch, sondern eine Sammlung von Schriften, die über viele Jahrhunderte hinweg entstanden sind. Ihre endgültige Zusammenstellung erfolgte nicht durch göttliches Diktat, sondern durch Menschen – und oft genug unter politischen Vorzeichen.

Die Entstehung des Kanons

Die alttestamentlichen Schriften (Tanach) wurden im Judentum relativ früh festgelegt. Doch das Neue Testament entstand über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren und wurde erst im 4. Jahrhundert allmählich kanonisiert. Die Schlüsselpersonen bei der Kanonbildung waren Kirchenväter wie Irenäus, Tertullian, Athanasius, Hieronymus und Augustinus – also exakt jene theologischen Autoritäten, die Zeugen Jehovas heute als „abgefallene Christen“ ablehnen.

Kaiser Konstantin, der ab 306 n. Chr. das Römische Reich regierte, war kein Theologe, aber ein Stratege. Er erkannte das Potenzial des Christentums als verbindendes Element eines innerlich zersplitterten Reiches. Er förderte eine einheitliche christliche Lehre, und das Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) war ein zentraler Meilenstein in dieser Entwicklung. Dort wurde u. a. der Arianismus verworfen – eine Lehre, die Jesus als geschaffenes Wesen sah, was ironischerweise der heutigen Position der Zeugen Jehovas entspricht.

Die 66 Bücher der protestantischen Bibel, auf die sich die Zeugen Jehovas stützen, wurden im Wesentlichen durch dieselbe Kirche festgelegt, deren zentrale Dogmen sie entschieden ablehnen. Diese Dogmen beinhalten unter anderem:

• Die Trinität (Vater, Sohn, Heiliger Geist als Einheit)

• Die Göttlichkeit Jesu

• Die leibliche Auferstehung

• Die Unsterblichkeit der Seele • Die ewige Höllenstrafe

Ein Paradox, das selten thematisiert wird: Die Zeugen Jehovas benutzen eine Bibel, deren Auswahlkriterien genau jene Lehren sichern sollten, die sie als unbiblisch verwerfen. Noch paradoxer ist: Einige ihrer zentralen Überzeugungen – etwa die Vernichtung der Bösen statt einer ewigen Hölle, die Auferstehung Jesu als Geistwesen und die Idee einer kleinen elitären Gruppe von Geretteten – finden in den apokryphen Schriften stärkere theologische Resonanz als im offiziellen Kanon.

Apokryphe Schriften und ihre Nähe zur ZJ-Lehre

Zahlreiche Texte, die eine abweichende Sicht auf Jesus, das Gericht oder das Heil vermitteln, wurden ausgeschlossen. Einige Beispiele:

Das Buch Henoch: Eine klare Engelshierarchie und ein kosmischer Kampf zwischen Gut und Böse – ganz im Sinne der ZJ-Vorstellung vom Erzengel Michael als Christus.

2. Henoch: Wiederkehrende Themen wie das künftige Gericht, ein Mittler zwischen Gott und Mensch und die Belohnung der Gerechten.

Der Hirt des Hermas: Eine kleine Gruppe „Versiegelter“ wird gerettet; moralisches Verhalten ist entscheidend. Parallelen zu den 144.000.

Barnabasbrief: Scharfe Abgrenzung zwischen „wahren Gläubigen“ und „anderen“ – ähnlich dem ZJ-Exklusivitätsanspruch.

Evangelium nach Thomas: Verneinung der leiblichen Auferstehung, Fokus auf geistige Erkenntnis – inhaltlich anschlussfähig.

Apokalypse des Petrus: Keine ewige Hölle, sondern symbolisches oder befristetes Strafgericht – wie bei den ZJ.

Didache: Klare Verhaltensregeln, Apokalyptik, Betonung von Zucht und Moral – auch das findet man bei den Zeugen Jehovas.

Trotz dieser theologischen Nähe lehnen die Zeugen Jehovas diese Schriften ab – nicht nur, weil sie nicht zum offiziellen Kanon gehören, sondern auch, weil sie das Selbstverständnis der Organisation gefährden würden. Es ist eine doppelte Ironie: Die Zeugen Jehovas verdammen jene Kirche, die den Kanon bestimmt hat, folgen aber exakt deren Auswahl – und ignorieren zugleich jene Texte, die ihrer eigenen Theologie in vielerlei Hinsicht näher stehen als der Kanon selbst.

Der Name Gottes im Neuen Testament – Wunsch oder Wirklichkeit?

Die Zeugen Jehovas sind besonders stolz auf ihre eigene Bibelübersetzung – die Neue-Welt-Übersetzung –, weil sie im Neuen Testament an 237 Stellen den Namen „Jehova“ einfügt. Sie behaupten, dass dieser Name ursprünglich im Urtext enthalten gewesen sei und später mutwillig durch „Kyrios“ (griechisch für „Herr“) ersetzt worden sei.

Historisch und textkritisch ist diese Behauptung jedoch nicht haltbar. Es existieren keine Originalmanuskripte des Neuen Testaments, wohl aber rund 5.000 griechische Abschriften oder Fragmente. Die ältesten von ihnen – etwa das Papyrus 52 (ca. 125 n. Chr.), Papyrus 90 oder Papyrus 104 – enthalten keine Spur vom Gottesnamen in irgendeiner Form. Auch der Codex Sinaiticus (4. Jh.), eine der vollständigsten frühen Bibeln, enthält das Tetragramm (JHWH) nicht ein einziges Mal.

Die Idee, dass eine große interkonfessionelle Verschwörung den Namen Gottes aus tausenden von Manuskripten entfernt haben soll, ist nicht nur unbelegt, sondern angesichts der Vielfalt der frühchristlichen Gemeinden auch historisch äußerst unwahrscheinlich.

Der eigentliche Grund, warum der Name Gottes nicht im Neuen Testament auftaucht, liegt auf der Hand: Die Urchristen kamen mehrheitlich aus dem Judentum. Sie betrachteten den Gottesnamen als so heilig, dass sie ihn nicht einmal aussprachen. Stattdessen benutzte man Umschreibungen wie „Adonai“ (Herr) oder „Elohim“ (Gott). Diese Praxis spiegelt sich auch in den altgriechischen Manuskripten wider, wo konsequent Kyrios verwendet wird – für Gott wie für Christus.

Die Form „Jehova“ ist darüber hinaus eine viel spätere Erfindung. Sie entstand im Mittelalter durch die Kombination der hebräischen Konsonanten JHWH mit den Vokalzeichen von „Adonai“ – eine synthetische Form, die sich nie in den biblischen Urtexten findet. Die heute bevorzugte Rekonstruktion lautet „Jahweh“, wobei auch diese nicht mit letzter Sicherheit belegt ist.

Die Neue-Welt-Übersetzung setzt an vielen Stellen den Namen „Jehova“ dort ein, wo im griechischen Urtext lediglich Kyrios steht – teils für Gott, teils für Jesus. Das Ergebnis: ein Übersetzungskonstrukt, das theologisch suggeriert, was philologisch nicht zu belegen ist. Besonders deutlich wird dies z. B. in Römer 10:13. Dort steht im griechischen Text „Kyrios“ – und alle vorangehenden Verse sprechen eindeutig von Jesus. Dennoch übersetzt die Neue-Welt-Übersetzung hier „Jehova“ – um ihre Lehre von der strikten Trennung zwischen Gott und Jesus zu stützen.

Hier geht es zum einem Beitrag zu Römer 10:13.

Fazit:

Die Bibel ist ein gewachsenes, historisches Dokument, kein mystisch vom Himmel gefallenes Buch. Ihre Form wurde durch Menschen geprägt – durch Machtkämpfe, theologische Dispute und kirchenpolitische Entscheidungen. Wer heute behauptet, sich allein auf die „wahre“ Bibel zu stützen, ohne diese Zusammenhänge zu reflektieren, übernimmt ungewollt auch all jene Strukturen, die man eigentlich ablehnt.

Und wer glaubt, dass der Name „Jehova“ im Neuen Testament nur deshalb fehlt, weil er absichtlich entfernt wurde, sollte sich fragen, warum er in keinem einzigen erhaltenen Manuskript der ersten Jahrhunderte auftaucht – nicht einmal als Andeutung. Die Lehren der Zeugen Jehovas sind also keineswegs neu; viele ihrer Kernaussagen finden sich bereits in frühchristlichen Texten, die dem späteren Kanon nicht angehören. Der Kanon hingegen wurde maßgeblich so zusammengestellt, dass genau diese Vorstellungen oft nicht gestützt, sondern ausgegrenzt wurden. Die Vorstellung, der Gottesname sei später systematisch entfernt worden, ist weder theologisch noch historisch haltbar – sie gehört ins Reich der Mythen und Märchen.

Rechtlicher Hinweis: Dieser Beitrag dient der journalistischen und theologisch fundierten Auseinandersetzung mit öffentlich dokumentierten Vorgängen der Wachtturm-Gesellschaft. Alle Zitate dienen der kritischen Analyse gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht). Alle genannten Gruppennamen und Begriffe sind eingetragene Bezeichnungen der jeweiligen Organisationen und werden hier ausschließlich im Rahmen zulässiger Berichterstattung nach § 50 UrhG und § 5 GG verwendet.


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