Der Beitrag zeigt: Die Fixierung der Zeugen Jehovas auf die Pfahl-Theorie bei Jesu Hinrichtung ist historisch nicht haltbar – archäologische und biblische Hinweise sprechen eher für ein Kreuz. Ursprünglich nutzte die Organisation selbst das Kreuzsymbol, bis es unter Rutherford verworfen wurde. Die Ablehnung dient heute vor allem der Abgrenzung: ein bewusst gesetztes Unterscheidungsmerkmal, um Exklusivität zu erzeugen. Theologisch ist der Unterschied unwesentlich – doch für die Wachtturm-Gesellschaft ein Instrument gruppenbezogener Identitätspolitik.
Ein dogmatischer Nebenkriegsschauplatz und seine tiefere Funktion
Kaum ein Detail wurde von der Wachtturm-Gesellschaft so beharrlich betont wie die Behauptung, Jesus sei nicht an einem Kreuz, sondern an einem aufrechten Pfahl hingerichtet worden. Was auf den ersten Blick wie eine nebensächliche Begriffsklärung wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als bewusst gesetzte Grenze – theologisch, historisch und psychologisch.
In Johannes 20,25 sagt der zweifelnde Apostel Thomas:
„Wenn ich nicht in seinen Händen die Spur der Nägel sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite, werde ich es keinesfalls glauben.“
Das griechische Wort für „Nägel“ steht hier im Plural – sowohl im Textus Receptus als auch in der Nestle-Aland-Ausgabe. Daraus ergibt sich zwangsläufig: Mindestens zwei Nägel wurden verwendet, um Jesu Hände zu befestigen – ein starker Hinweis auf eine klassische Kreuzigung, nicht auf die von der Wachtturm-Gesellschaft propagierte „Pfählung“ mit nur einem einzigen Nagel.

(Textus Receptus)

Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland)
Tatsächlich hatten die frühen Bibelforscher unter Charles Taze Russell keinerlei Schwierigkeiten mit dem Kreuz als Symbol. Es erschien regelmäßig in der Zeitschrift Zion’s Watch Tower, zierte Broschüren, Vortragseinladungen und wurde als Teil des „Kreuz-und-Krone“-Emblems genutzt.

Erst unter Joseph F. Rutherford setzte ein Bruch ein: Das Kreuz wurde sukzessive aus Publikationen, Illustrationen und Lehrmaterialien entfernt. Fortan galt es als „heidnisches Symbol“ – eine bis heute wiederholte Deutung, die historisch und theologisch mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Historischer Umgang mit dem Kreuz
Die römische Hinrichtungspraxis im 1. Jahrhundert war nicht einheitlich. Kreuzigungen fanden in unterschiedlichen Varianten statt: T-, X-, Y-Form oder auch an Pfählen. Doch die archäologische Evidenz spricht eine deutliche Sprache:
- Das sogenannte Alexamenos-Graffito (ca. 126 n. Chr.) zeigt eine karikierte Kreuzigungsdarstellung – lange vor dem Aufstieg der Amtskirche
→ Wikipedia-Link - In einer christlichen Katakombe am Ölberg finden sich Kreuzsymbole aus dem 1. Jahrhundert
→ LeaderU.com-Artikel - In Herculaneum wurde ein Kreuzsymbol in die Wand eines Hauses geritzt – datiert auf vor 79 n. Chr.
→ Vandenhoeck & Ruprecht, PDF-Auszug
Diese Funde widerlegen die These, das Kreuz sei eine späte, heidnische Erfindung. Es war früh ein Symbol für das Leiden und den Tod Jesu, lange bevor das Christentum institutionalisiert wurde.
Die Argumentationslinie der Zeugen Jehovas
Die Ablehnung des Kreuzes stützt sich bis heute vor allem auf William Edwy Vine, einen evangelikalen Theologen aus dem 19. Jahrhundert. Vine argumentierte, das griechische Wort staurós könne sowohl „Pfahl“ als auch „Kreuz“ bedeuten. Er mutmaßte, das Kreuz sei später eingeführt worden, um Heiden – insbesondere Anhängern des Gottes Tammuz – den Übertritt zu erleichtern.
Doch Vine war kein Archäologe, sondern ein bibeltreuer Dogmatiker mit adventistischem Hintergrund. Besonders bemerkenswert: Vine lehnte selbst die Lehren der Zeugen Jehovas ab – insbesondere deren Ablehnung der Trinität und der Göttlichkeit Jesu. Dass die Wachtturm-Gesellschaft sich dennoch selektiv auf ihn beruft, zeigt weniger wissenschaftliche Sorgfalt als dogmatische Zweckmäßigkeit.
Hinzu kommt: Die ersten Übersetzer der Neuen-Welt-Übersetzung verfügten nach eigenen Aussagen über keine fundierten Altgriechischkenntnisse. Sie waren auf Werke wie Vine angewiesen und übernahmen dessen Deutungen offenbar unkritisch.
Psychologischer Befund
Ob Jesus an einem Kreuz oder an einem Pfahl starb, ist für das christliche Verständnis seines Opfers letztlich zweitrangig. Doch die Vehemenz, mit der die Zeugen Jehovas diesen Nebenaspekt betonen, wirkt wie ein künstlich errichtetes Abgrenzungsmerkmal – ein typisches Element gruppenbezogener Kontrolle:
„Nur wir haben die wahre Erkenntnis – alle anderen liegen falsch.“
Ein solches Muster zieht sich durch zahlreiche Lehrentscheidungen der Organisation – etwa das Verbot von Geburtstagsfeiern oder das Verdikt gegen Symbole, deren Bedeutung angeblich „heidnisch“ sei. Nicht die Heilige Schrift steht im Zentrum, sondern die Systemlogik der Organisation: Abgrenzung erzeugt Identität.
Aber Zeugen Jehovas haben längst eine Alternative zum Kreuz gefunden:

Bildquelle: Screenshot aus öffentlich einsehbarem eBay- und TEMU-Angebot (Stand: Juni 2025).
Das Bild zeigt eine Werbedarstellung von Accessoires mit der eingetragenen Marke JW.ORG.
Die Verwendung erfolgt ausschließlich dokumentarisch und im Rahmen der kritischen Analyse zur Symbolverwendung innerhalb religiöser Gemeinschaften gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht).

Fazit
Der Tod Jesu ist für Christen zentral. Die Frage, ob er an einem Kreuz oder Pfahl starb, ist hingegen eine Nebensache – es sei denn, man erhebt sie künstlich zur Identitätsmarke. Genau das tut die Wachtturm-Gesellschaft: Sie konstruiert eine exklusive Wahrheit, wo keine theologische Notwendigkeit besteht.
Das Kreuz wird verworfen – nicht aus biblischer Überzeugung, sondern zur Selbstprofilierung einer Organisation, die ihre Legitimation aus Andersartigkeit bezieht. Ein Muster, das sich in vielen autoritär geführten Glaubenssystemen nahezu identisch wiederholt.
Rechtlicher Hinweis: Dieser Beitrag dient der journalistischen und theologisch fundierten Auseinandersetzung mit öffentlich dokumentierten Vorgängen der Wachtturm-Gesellschaft. Alle Zitate dienen der kritischen Analyse gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht). Alle genannten Gruppennamen und Begriffe sind eingetragene Bezeichnungen der jeweiligen Organisationen und werden hier ausschließlich im Rahmen zulässiger Berichterstattung nach § 50 UrhG und § 5 GG verwendet.
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