Einleitung:
Die Zeugen Jehovas genießen in Deutschland einen rechtlichen und gesellschaftlichen Status, der auf den ersten Blick erstaunen mag. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt, steuerlich privilegiert und rechtlich gleichgestellt mit Großkirchen, erscheinen sie vielen als harmlose religiöse Gemeinschaft mit bewundernswerter Standhaftigkeit im Nationalsozialismus. In den Augen eines Großteils der deutschen Bevölkerung handelt es sich schlicht um „harmlose Bibelspinner“ im zeitlos unmodernen Outfit.
Doch diese Perspektive greift zu kurz. Denn die heute oft übersehene Kehrseite ist ein System der inneren Kontrolle, rigider sozialer Ausgrenzung (Ächtung) und der strukturellen Verantwortungsverweigerung. Es ist an der Zeit, das Verhältnis Deutschlands zu den Zeugen Jehovas kritisch zu hinterfragen – historisch, juristisch und ethisch.
1. NS-Verfolgung: Zwischen individuellem Leid und organisatorischer Strategie
Es besteht kein Zweifel daran, dass einzelne Zeugen Jehovas während der NS-Zeit schwerstes Leid erlitten haben: Haft, Folter, Konzentrationslager, Hinrichtungen. Ihre Verweigerung des Hitlergrußes und des Kriegsdienstes war mutig und bewundernswert. Doch die Organisation selbst versuchte 1933 – dokumentiert in der sogenannten „Wilmersdorfer Erklärung“ und einem Begleitschreiben an Adolf Hitler – sich überzeugend als unpolitisch, gesetzestreu und frei von jüdischem Einfluss darzustellen. Es handelte sich um den Versuch einer Anpassung zur Selbsterhaltung.
Die WTG hat dieses ambivalente Kapitel nie selbstkritisch aufgearbeitet. Stattdessen wird bis heute ein Opfer-Narrativ gepflegt, das individuellen Heldenmut mit organisatorischer Integrität gleichsetzt. Diese Gleichsetzung ist weder historisch noch moralisch haltbar.
2. Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts: Juristisch legal – gesellschaftlich problematisch
Im Jahr 2006 wurden die Zeugen Jehovas nach jahrelangen Prozessen vor deutschen Gerichten als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Diese Entscheidung beruhte auf der formalen Einhaltung des Rechts, insbesondere der Loyalität zur Verfassung, der Dauerhaftigkeit der Organisation und dem Nachweis geordneter Verhältnisse.
Was dabei kaum Berücksichtigung fand: Die systematische Praxis sozialer Ächtung (Shunning), der psychische Druck auf Aussteiger:innen, die intransparente Binnenstruktur sowie der Umgang mit Kindesmissbrauchsfällen. Diese Aspekte wurden juristisch kaum bewertet, da das Verfahren primär formalrechtlich, nicht inhaltlich-ethisch geführt wurde.
Folge: Die Anerkennung hat den Zeugen Jehovas einen institutionellen Schutzschirm verliehen, der es erschwert, ihre internen Praktiken kritisch zu beleuchten, ohne als religionsfeindlich zu gelten.
3. Schuld und Schonung: Die moralische Hypothek der Bundesrepublik
Die besondere Zurückhaltung des Staates gegenüber den Zeugen Jehovas lässt sich nicht zuletzt auf die NS-Vergangenheit zurückführen. Das historisch begründete Schuldgefühl gegenüber religiösen Minderheiten, insbesondere solchen mit Verfolgungshintergrund, hat in der Bundesrepublik zu einer Haltung geführt, die Kritik schnell als Angriff auf die Religionsfreiheit einordnet.
Eine Religion jedoch, die ihren eigenen Mitgliedern das Recht auf Religionsfreiheit verweigert, sich aber selbst auf diesen Schutz beruft, stellt ein juristisches und ethisches Paradoxon dar.
Doch gerade im Licht heutiger Erkenntnisse über systemische Ausgrenzung, psychische Traumatisierung von Aussteiger:innen und das Versagen der Organisation beim Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch müsste diese Zurückhaltung hinterfragt werden. Denn Religionsfreiheit ist kein Freibrief für soziale Isolation, Angstpädagogik und institutionalisierte Verantwortungslosigkeit.

4. Was gesellschaftlich nötig wäre
- Eine unabhängige juristische Neubewertung der Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts im Lichte neuer Tatsachen und wissenschaftlicher Studien.
- Mehr wissenschaftliche Forschung zur psychischen, sozialen und familiären Belastung durch die Strukturen der Organisation.
- Eine öffentliche Debatte, die zwischen individueller Religionsfreiheit und organisatorisch verankerter Manipulation unterscheidet.
- Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche in autoritär geführten religiösen Gruppen.
Fazit
Die Zeugen Jehovas sind keine harmlose Bibelgruppe. Sie sind eine weltweit agierende, milliardenschwere Organisation mit hochgradig kontrollierenden Strukturen, deren Lehre und Praxis nachweislich psychische, soziale und familiäre Risiken birgt. Ihre Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland ist juristisch nachvollziehbar, aber gesellschaftlich blind.
Der Respekt vor den Opfern der NS-Zeit darf nicht zur pauschalen Immunisierung einer heutigen Organisation führen. Wer aufklären will, muss differenzieren. Und wer über Verantwortung spricht, darf zu lange verschlossene Akten nicht in der Schublade lassen.
Petition: https://www.change.org/p/entzug-des-k%C3%B6rperschaftsstatus-von-zeugenjehovas

Hinweis: Dieser Beitrag stellt eine journalistisch und theologisch motivierte Meinungsäußerung dar. Alle Aussagen über die Organisation der Zeugen Jehovas beruhen auf öffentlich zugänglichen Quellen, Studien und Dokumentationen. Die Analyse erfolgt im Rahmen des Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 GG sowie § 193 StGB.