Obwohl die Zeugen Jehovas ihren Mitgliedern politische Neutralität strikt vorschreiben – bis hin zum Ausschluss bei Verstößen –, war ihre Leitungsorganisation zehn Jahre lang offiziell als NGO bei den Vereinten Nationen registriert. Diese Verbindung wurde erst nach öffentlichem Druck beendet. Auch die Teilnahme an politischen OSZE-Veranstaltungen wirft Fragen auf. Der Artikel zeigt: Während einfache Mitglieder unter harter Kontrolle stehen, agiert die Leitung taktisch – mit doppeltem Maßstab. Das wirft Fragen nach Transparenz, Glaubwürdigkeit und ethischer Integrität auf.
Einleitung
Dieses Kapitel richtet sich nicht nur an religionskritische Leser, sondern gerade auch an aktive oder ehemalige Zeugen Jehovas, die von klein auf verinnerlicht haben, dass politische Neutralität ein zentrales Gebot ihres Glaubens ist. Das Verbot, Teil „dieser Welt“ zu sein, zieht sich wie ein roter Faden durch nahezu jede Publikation der Wachtturm-Gesellschaft. Umso überraschender und aufschlussreicher sind dokumentierte Fälle institutioneller Verbindungen der Organisation zu politischen Institutionen wie der UNO oder der OSZE. Diese Verbindung steht im Spannungsverhältnis zu der offiziellen Lehre und führt zu Fragen nach Doppelmoral, Intransparenz und religiöser Verantwortung.
1. Die UNO als „wildes Tier“ – und gleichzeitig Partner?
Zeugen Jehovas lehren seit Jahrzehnten, dass die Vereinten Nationen in der prophetischen Offenbarung der Bibel das „scharlachrote wilde Tier“ darstellen, das unter dem Einfluss Satans gegen Gottes Volk handelt. Hier einige Zitate aus offiziellen Publikationen:
- „Die UNO ist in Wirklichkeit „die sichtbare politische, kommerzielle Organisation des ‚Gottes dieses Systems der Dinge‘, Satan, der Teufel.“ (Wachtturm, 15.09.1984, S. 15)
- „Ein weltliches Bündnis gegen Jehova Gott.“ (Wachtturm, 01.09.1987, S. 20)
- „Jehovas Zeugen weisen unerschrocken das dämonische Kennzeichen des wilden Tieres zurück.“ (Wachtturm, 01.05.1991, S. 22)
Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass die Watchtower Bible and Tract Society of New York im Jahr 1991 einen Antrag stellte, um NGO-Partner (Nichtregierungsorganisation) des Department of Public Information (DPI) der Vereinten Nationen zu werden – ein Status, der im Jahr 1992 gewährt und erst 2001 beendet wurde.
Die offizielle Erklärung der UNO vom Oktober 2001 bestätigt:
„Durch die Annahme der Verbindung mit DPI erklärte sich die Organisation bereit, die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen zu unterstützen und zu respektieren.“ (Quelle: un.org/en/civil-society/watchtowerletter)

2. Austritt nicht freiwillig, sondern durch öffentlichen Druck?
Die Wachtturm-Gesellschaft beendete die Verbindung zur UNO am 9. Oktober 2001, wenige Tage nachdem der britische Guardian in einem Artikel vom 8. Oktober 2001 über diese Verbindung berichtet hatte. Die zeitliche Nähe legt nahe, dass nicht eine plötzliche „theologische Klarheit“, sondern öffentlicher Druck zum Austritt führte.
https://www.theguardian.com/uk/2001/oct/08/religion.world
Die offizielle Begründung der Organisation lautete, man habe Zugang zu Bibliotheken gewollt. Doch dieser Zugang war auch ohne NGO-Status möglich. Die Erklärung wurde in einem internen Brief an Älteste verbreitet, der jedoch mehr Fragen aufwirft als klärt.
3. Die UN-Mitgliedschaft der Zeugen Jehovas – Analyse eines internen Rundbriefs
Am 1. November 2001 versandte die Watchtower Bible and Tract Society einen Rundbrief an ihre Zweigbüros. Darin versuchte sie, sich zur inzwischen bekannt gewordenen Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen als NGO (Nichtregierungsorganisation) zu erklären.
Der Brief war eine Reaktion auf wachsende öffentliche Kritik und basiert nach eigener Aussage auf „Veröffentlichungen von Gegnern“.
Die folgenden Auszüge stammen aus dem englischen Originaldokument, öffentlich zugänglich (siehe Quelle am Ende), ergänzt durch Übersetzung und Kommentar:
Originalzitat 1
“Our purpose for registering with the Department of Public Information (DPI) in 1991 was to have access to research material available on health, ecological, and social problems at the United Nations library facilities.”
Übersetzung:
„Unser Zweck der Registrierung beim Department of Public Information (DPI) im Jahr 1991 bestand darin, Zugang zu Forschungsliteratur zu erhalten, die sich auf gesundheitliche, ökologische und soziale Probleme bezieht.“
Kommentar:
Diese Erklärung wirkt vordergründig harmlos. Doch sie verschweigt zentrale Tatsachen: Die Mitgliedschaft bei der UN-DPI musste jährlich erneuert werden – zehn Jahre lang. Wer sich nur einmalig „recherchieren“ möchte, tritt keiner internationalen Organisation bei und bestätigt über Jahre hinweg deren Charta.
Zudem sind die Bibliotheken der UNO öffentlich zugänglich, auch ohne NGO-Status. Es gibt keine „geheime Forschungsbibliothek“. Warum also der Aufwand?

Originalzitat 2
“Registration papers filed with the United Nations […] contain no statements that conflict with our Christian beliefs.”
Übersetzung:
„Die bei den Vereinten Nationen eingereichten Unterlagen enthalten keine Aussagen, die unseren christlichen Überzeugungen widersprechen.“
Kommentar:
Ein bemerkenswerter Satz. Denn dieselbe Organisation bezeichnet die UN in ihren Publikationen als Teil von „Babylon der Großen“, dem von Gott verurteilten Weltsystem.
Aber die Leitungsebene unterzeichnet gleichzeitig eine formelle Anerkennung der UN-Charta, ist theologisch wie moralisch ein Widerspruch.
Originalzitat 3
“Association of NGOs with the DPI does not constitute their incorporation into the United Nations system.”
Übersetzung:
„Die Assoziierung von NGOs mit dem DPI stellt keine Eingliederung in das System der Vereinten Nationen dar.“
Kommentar:
Formal korrekt – aber semantisch irreführend. Denn der NGO-Status beim DPI impliziert mehr als bloßen Bibliothekszugang. Er beinhaltet Mitwirkungsrechte, Zugang zu Ausschüssen und die Verpflichtung, die Ziele der UN aktiv zu unterstützen – auch öffentlich.
Die UNO selbst erklärt, dass NGOs mit DPI-Status regelmäßig Beiträge zu politischen, sozialen und humanitären Themen leisten – darunter auch Themen, die die Zeugen Jehovas in anderen Kontexten ablehnen (z. B. Menschenrechtserklärungen mit LGBTQ+-Bezug).
Originalzitat 4
“When we realized this, we immediately withdrew our registration.”
Übersetzung:
„Als wir das erkannten, zogen wir unsere Registrierung sofort zurück.“
Kommentar:
Auch das ist falsch, oder zumindest unvollständig.
Die Mitgliedschaft wurde erst drei Tage nach einem Artikel im Guardian vom 8. Oktober 2001 beendet. Dort war die NGO-Zugehörigkeit der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden.
Dass die Organisation über Jahre hinweg nichts an den „Kriterien“ zu beanstanden hatte – und dann plötzlich, nach einem Medienbericht, „sofort“ zurücktrat – wirkt wenig glaubwürdig.
https://www.theguardian.com/uk/2001/oct/08/religion.world

Fazit
Der Brief vom 1. November 2001 ist weniger eine Erklärung als ein rhetorischer Versuch, sich einer peinlichen Enthüllung zu entziehen – mit Halbwahrheiten, Auslassungen und sprachlichen Verschleierungen.
Er zeigt vor allem eines:
Wie weit eine Organisation bereit ist zu gehen, um ihre Außenwirkung zu schützen – auch wenn es bedeutet, die eigenen Mitglieder in Unwissenheit zu halten.
Quellenangabe:
Rundschreiben vom 1. November 2001, Watchtower Bible and Tract Society, zitiert nach:
https://www.jwfacts.com/watchtower/united-nations-association.php
4. Politische Neutralität – eine Einbahnstraße?
Die Organisation der Zeugen Jehovas legt größten Wert auf politische Neutralität – zumindest gegenüber ihren Mitgliedern. Im Alltag bedeutet das:
- Parteizugehörigkeit oder Wahlbeteiligung gelten als Verletzung der christlichen Loyalität gegenüber Gottes Königreich und können zu Ausschlussverfahren führen.
- Engagement in humanitären Organisationen (wie etwa der Caritas) wird häufig abgelehnt – mit der Begründung, solche Einrichtungen seien Teil „dieser Welt“.
- Zivildienst wurde jahrzehntelang nur unter erheblichen Vorbehalten geduldet, oft verbunden mit innergemeindlichem Misstrauen oder Disziplinarmaßnahmen.
Diese Haltung wird theologisch untermauert, u. a. in der offiziellen Lehrschrift „Bleibt in Gottes Liebe“:
„Die Gesalbten […] vertreten die Regierung Gottes. Sie halten sich deshalb aus dem politischen Geschehen dieser Welt völlig heraus (Philipper 3:20).“
„Auch sie [die ‚anderen Schafe‘] bleiben politisch neutral.“
(JW.ORG / Kapitel „Kein Teil der Welt sein“, S. 61)
Umso auffälliger ist der Kontrast zur Realität auf Organisationsebene:
Zwischen 1992 und 2001 war die Watchtower Bible and Tract Society selbst als Nichtregierungsorganisation (NGO) beim Department of Public Information der Vereinten Nationen registriert – einem Organ, das ausdrücklich die aktive Unterstützung der UN-Ziele und Charta verlangt.
Diese Verbindung wurde jedoch nicht offengelegt, geschweige denn theologisch eingeordnet oder als Irrtum eingeräumt.
Das Ergebnis ist eine asymmetrische Auslegung von Neutralität:
Während einfache Mitglieder für vermeintliche Nähe zur „Welt“ sanktioniert werden, konnte sich die Organisation zehn Jahre lang im diplomatischen Rahmen der UNO bewegen – ohne jede innergemeindliche Diskussion. Neutralität wird so nicht zur Gewissensentscheidung, sondern zum Herrschaftsinstrument.
5. Die OSZE – eine weitere politische Verbindung?
Neben der UNO zeigt sich auch eine Verbindung zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Vertreter der Wachtturm-Gesellschaft nahmen an OSZE-Konferenzen teil, u. a. zum Thema Religionsfreiheit. Die OSZE ist ein politisches Gremium mit sicherheits- und demokratiepolitischer Agenda. Die Beteiligung wurde von der Organisation nicht öffentlich gemacht, obwohl man sich innerhalb der eigenen Reihen deutlich gegen jede Form politischer Beteiligung ausspricht.
6. Konsequenzen für Mitglieder – keine Konsequenzen für die Leitung?
Laut ältesteninternem Handbuch „Hüte die Herde Gottes“ müssen Mitglieder, die gegen die politische Neutralität verstoßen, vor ein Rechtskomitee treten. Die NGO-Mitgliedschaft bei der UNO wurde jedoch nicht durch ein „versehentliches Versehen“, sondern durch einen formellen Antrag unterzeichnet – mutmaßlich durch das damalige Mitglied der Leitenden Körperschaft Lloyd Barry.
Mehrere der damals aktiven Mitglieder der Leitenden Körperschaft (z. B. S. Herd, G. Lösch, D. Splane) sind bis heute in diesem Gremium vertreten. Die Frage bleibt: Warum gilt die Regel der „Neutralität“ nicht gleichermaßen für alle?
7. Historischer Kontext: Malawi und die „Partei-Karte“
In den 1970er Jahren wurden Zeugen Jehovas in Malawi verfolgt, weil sie sich weigerten, eine Parteikarte der dortigen Staatspartei zu erwerben. Die Organisation verbot ihren Mitgliedern dies mit Verweis auf politische Neutralität. Viele zahlten mit Gefängnis, Folter oder gar ihrem Leben.
Dass dieselbe Organisation rund 15 Jahre später freiwillig eine Verbindung mit einer politischen Weltorganisation einging, wirft ethische Fragen auf, die bis heute unbeantwortet sind.
8. Fazit: Politische Neutralität als Auslegungsfrage?
Die Mitgliedschaft der Wachtturm-Gesellschaft bei der UNO sowie die Beteiligung an OSZE-Veranstaltungen stehen in klarem Widerspruch zur öffentlichen Lehre und internen Disziplinierungspraxis der Organisation. Der Umgang mit dieser Doppelmoral – insbesondere die mangelnde Transparenz und fehlende Selbstkritik – führt bei vielen ehemaligen und aktiven Mitgliedern zu erheblicher Verstörung.
Das alles ist an sich nichts Verwerfliches – Organisationen dürfen strategisch agieren, um ihre Ziele zu erreichen. Verwerflich ist jedoch die Doppelmoral, mit der dies im Fall der Wachtturm-Gesellschaft geschieht. Während einfache Mitglieder unter hohem persönlichem Risiko zu absoluter politischer Neutralität verpflichtet werden – bei Androhung des Gemeinschaftsentzugs –, scheint diese Regel für die Leitungsebene nicht zu gelten.
Meine begründete Vermutung: Die Mitgliedschaft bei der UNO und die Beteiligung an der OSZE verschafften der Wachtturm-Gesellschaft Zugang zu diplomatischen Kanälen und internationalen Entscheidungsstrukturen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die UNO im Jahr 1992 waren Jehovas Zeugen in vielen Staaten – darunter auch Deutschland – noch nicht als Religionsgemeinschaft oder Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Die NGO-Mitgliedschaft konnte das öffentliche Bild verbessern und politischen Druck aufbauen, um solche Anerkennungen zu beschleunigen. Dies wiederum brachte der Organisation handfeste Vorteile: steuerliche Privilegien, staatliche Subventionen, rechtliche Sonderrechte. Was also für einzelne Gläubige als „Verunreinigung durch die Welt“ geächtet wird, scheint auf institutioneller Ebene gezielt instrumentalisiert worden zu sein.
In Anlehnung an Matthäus 23 könnte man fragen: Wird hier die Mücke ausgesiebt, aber das Kamel verschluckt?
Quellen: Wachtturm-Archiv, Erwachet!, Buch „Bleibt in Gottes Liebe“, Ältestenbuch „Hüte die Herde Gottes“, The Guardian (08.10.2001), Archiv Vegelahn, UNO-Homepage, NGO-Sektion (un.org), Dokumente der OSZE, eigene Auswertung interner Briefe.
Rechtlicher Hinweis: Dieser Beitrag dient der journalistischen und theologisch fundierten Auseinandersetzung mit öffentlich dokumentierten Vorgängen der Wachtturm-Gesellschaft. Alle Zitate dienen der kritischen Analyse gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht). Alle genannten Gruppennamen und Begriffe sind eingetragene Bezeichnungen der jeweiligen Organisationen und werden hier ausschließlich im Rahmen zulässiger Berichterstattung nach § 50 UrhG und § 5 GG verwendet.
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