Experiencing Religious Shunning: Insights into the Journey from Being a Member to Leaving the Jehovah’s Witnesses Community“ von Grendele, Bapir-Tardy und Flax (2023)
Religiöses Shunning bei den Zeugen Jehovas – Eine qualitative Studie über Kontrolle, Ausgrenzung und soziale Vernichtung
Zusammenfassung der Studie:
Grendele, W. A., Bapir-Tardy, S. & Flax, M. (2023). Experiencing Religious Shunning: Insights into the Journey from Being a Member to Leaving the Jehovah’s Witnesses Community. In: Pastoral Psychology. DOI: 10.1007/s11089-023-01074-y
Ziel und Methodik der Studie
Die Studie untersucht in 21 ausführlichen Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der Zeugen Jehovas, wie religiös motiviertes Shunning erlebt und verarbeitet wird. Dabei geht es um die Frage, wie Menschen – meist nach einem Ausschluss oder freiwilliger Distanzierung – mit dem Verlust ihres sozialen Umfelds, ihrer religiösen Identität und familiären Bindungen umgehen.
- Teilnehmer:innen: 21 ehemalige ZJ (UK), verschiedene Altersgruppen (v. a. 50+), diszipliniert ausgeschlossen oder formal dissoziiert
- Methode: Reflexive thematische Analyse (Braun et al., 2019)
- Zentrale Themen:
- Gründe für das Shunning
- Das Justizkomitee und der Ausschlussprozess
- Folgen der Ausgrenzung
- Reintegrationsversuche (Reinstatement)
1. Gründe für das Shunning: Sünde, Gehorsam, Deutungshoheit
Der Ausschluss erfolgte nicht nur wegen vermeintlich „unmoralischen Verhaltens“ (z. B. Sex vor der Ehe, Alkoholkonsum), sondern auch wegen kritischer Fragen, Zweifeln oder öffentlicher Aufklärung (z. B. zur Royal Commission). Dabei wird weniger der „Fehltritt“ selbst geahndet, sondern das Maß an Reue – nach Einschätzung der Ältesten.
Beobachtung: Shunning wurde oft auch bei Reue angewendet – teils sogar gezielt eingesetzt, um sich von der Organisation zu lösen, ohne Angehörige zu „schockieren“.
2. Das Justizkomitee: Willkür statt Seelsorge
Die Ältestengerichte agieren ohne Transparenz, ohne Beistand, ohne Mitsprache, mit oft demütigendem Detailzwang. Die Entscheidungen erscheinen häufig vorab festgelegt, Berufungen bleiben in der Regel wirkungslos. Die Atmosphäre ist geprägt von Angst, Scham und Kontrolle.
„Es gibt keinen Gott in diesem Prozess. Nur Männer, die Befehle befolgen.“ (Teilnehmerzitat)
➡️ Die Studie stellt klar: Der Ausschlussmechanismus dient nicht primär der Seelsorge, sondern der Aufrechterhaltung von Machtstrukturen und Kontrolle über das Denken und Verhalten der Mitglieder.
3. Die Folgen des Shunnings: Sozialer Tod und psychische Schäden
Der Ausschluss führte bei allen Befragten zu einem tiefgreifenden Verlust der sozialen Identität. Die Betroffenen wurden von ihren Familien, Partnern, Kindern oder Freunden konsequent gemieden. Viele beschrieben sich als unsichtbar, wertlos, ausgelöscht.
Psychische Folgen:
- Depression, Angststörungen, Suizidgedanken
- Identitätsverlust und Isolation
- Scham, Schuld und internalisierte Abwertung
- Sprachlosigkeit und emotionale Taubheit
„Ich war für meine Familie tot – obwohl ich lebte.“
4. Reinstatement: Rückkehr durch Selbstverleugnung
Der Versuch, wieder aufgenommen zu werden, verlangte totale Unterwerfung:
- Teilnahme an allen Treffen (monatelang ohne Kontakt)
- Wiederholte Gesuche um Gnade
- Glaubensbekenntnisse (oft nicht ehrlich)
- Keine psychologische oder praktische Unterstützung
Viele gaben an, nur für Angehörige „zurückzukehren“ – nicht aus Überzeugung. Andere erlitten im Reinstatement-Prozess erneute Rückschläge und retraumatisierende Erfahrungen.
Schlussfolgerung der Autor:innen
Die Studie belegt eindrücklich:
- Shunning bei den Zeugen Jehovas ist systematisiert, kontrollierend und entmenschlichend.
- Es handelt sich nicht um individuelle Seelsorge, sondern um eine kollektive Sanktion mit gravierenden psychosozialen Folgen.
- Die Organisation verfolgt eine Machtlogik, die psychologischen Druck, Schuldnarrative und soziale Isolation als Werkzeuge einsetzt.
- Reue wird nicht objektiv bewertet, sondern als Mittel zur Disziplinierung verwendet – oft unabhängig vom tatsächlichen Verhalten der Betroffenen.
Bewertung für hellereslicht.de
Diese Studie ergänzt frühere Arbeiten wie Grieving the Living um eine organisationssoziologische Perspektive. Besonders wertvoll ist die konkrete Darstellung des Ausschlussprozesses, der Rolle des Justizkomitees und der psychischen Langzeitfolgen.
Sie ist von hoher Relevanz für:
- Betroffene und Aussteiger:innen
- Berater:innen und Therapeut:innen
- Forschende zu religiösem Machtmissbrauch
- Kritische Beobachter religiöser Hochkontrollgruppen
Zitationshinweis für deine Webseite
Grendele, W. A., Bapir-Tardy, S., & Flax, M. (2023). Experiencing Religious Shunning: Insights into the Journey from Being a Member to Leaving the Jehovah’s Witnesses Community. Pastoral Psychology. https://doi.org/10.1007/s11089-023-01074-y
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