Opfer oder Täter? Mitglieder im Spannungsfeld

Zusammenfassung (1 Minute Lesezeit):

Der Beitrag beleuchtet die komplexe Rolle von Mitgliedern der Zeugen Jehovas im Spannungsfeld zwischen Opfer und Täter. Viele Menschen übernehmen innerhalb der Organisation Aufgaben, die sie aus heutiger Sicht bereuen – etwa Missionierung, Kontrolle oder das Meiden von Aussteigern. Psychologisch betrachtet handelt es sich oft um Identifikation mit dem Aggressor oder traumatische Bindungen: Mechanismen, die aus Schutz- und Überlebensstrategien entstehen.

Mit zunehmender Nähe zur Führungsebene und wachsendem Wissen über die Strukturen steigt auch die individuelle Verantwortung. Der Text plädiert deshalb für eine differenzierte Sicht: Wer manipuliert wurde, ist nicht automatisch Täter – aber Einsicht schafft neue Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Schuldgefühle sind dabei keine Lösung, sondern ein Zeichen moralischer Wachheit.

Besonders für ehemalige Mitglieder, die andere überzeugt haben, wird ein Weg aufgezeigt: Es ist möglich, aus Fehlern Stärke zu schöpfen – und durch Aufklärung, Mitgefühl und eigenes Vorbild dazu beizutragen, dass sich destruktive Muster nicht fortsetzen.

Auch wenn ich auf dieser Seite selten Persönliches schreibe, möchte ich zu diesem Thema ein paar persönliche Gedanken voranstellen. Als ehemaliger Zeuge Jehovas habe ich mir oft die Frage gestellt, wie es wäre, wenn ich selbst andere – vielleicht sogar Familienangehörige – in diese Gemeinschaft gezogen hätte. Was macht das mit dem Gewissen, wenn man erkennt, dass diese Organisation nicht heilsam, sondern destruktiv wirkt? Wie kann man mit dieser Verantwortung umgehen?

Ich selbst bin zum Glück sehr jung ausgestiegen und musste diese Frage für mich persönlich nie in voller Härte beantworten. Aber ich kenne viele, denen es anders geht – Menschen, die anderen überzeugt den Weg gewiesen haben, den sie später selbst bereut haben. Dieser Text ist auch für sie.

Wenn über sogenannte Sekten gesprochen wird, verhärten sich die Fronten oft schnell: Auf der einen Seite die Kritiker, auf der anderen die Gläubigen. Dabei geht ein zentraler Punkt häufig unter – gerade im Fall der Zeugen Jehovas: Die Mitglieder sind nicht einfach Täter, weil sie missionieren, manipulieren oder sich loyal zum System verhalten. Und sie sind auch nicht bloß Opfer, die willenlos folgen. Die Realität ist komplexer – und genau darin liegt die eigentliche Tragik.

Dieser Beitrag möchte differenzieren – und helfen zu verstehen: Warum Menschen sich selbst verlieren, warum sie anderen schaden, ohne es zu wollen – und warum Empathie und klare Systemkritik kein Widerspruch sind.


Warum Opfer?

1. Psychologische Manipulation statt freier Wille

Sektenähnliche Strukturen – wie sie bei den Zeugen Jehovas deutlich ausgeprägt sind – bedienen sich gezielter psychologischer Mechanismen, um Mitglieder emotional zu binden. Dazu gehören:

  • Love Bombing: Neue Mitglieder werden mit Zuwendung überschüttet – bis sie sich innerlich abhängig fühlen.
  • Angstnarrative: Wer das System verlässt, wird mit „ewiger Vernichtung“ bedroht.
  • Schuldlogik: Persönliches Leid wird oft auf mangelnden Glauben zurückgeführt – nie auf das System selbst.

Solche Methoden sind gut erforscht. Sie finden sich auch in destruktiven Beziehungen, totalitären Systemen oder bei Opfern narzisstischer Manipulation.

2. Informationskontrolle – die unsichtbare Zensur

Ein weiterer Aspekt ist die Kontrolle über Denken und Wissen. Bei den Zeugen Jehovas bedeutet das:

  • Verbot des Kontakts mit kritischen Quellen
  • Abwertung aller Außenstehenden („die Welt“, „Abtrünnige“)
  • Einseitige Bibelauslegung ohne theologische Vielfalt
  • Misstrauen gegenüber Psychologie, Philosophie oder säkularem Denken

Die Folge: Selbstreflexion wird blockiert, Zweifel werden als Gefahr interpretiert – und das Denken in Alternativen verlernt.

3. Identitätsverlust

Langjährige Mitglieder entwickeln oft eine sekundäre Identität, die vollständig an das System gekoppelt ist.
Sie verstehen sich nicht mehr als eigenständige Person, sondern als „Verkündiger“, „Diener Jehovas“, „Mitglied der einzig wahren Organisation“.

Diese künstliche Identität wird durch ständige Wiederholung stabilisiert – etwa in Zusammenkünften, Publikationen oder Ritualen. Sie ersetzt persönliche Reifung durch systemkonformes Verhalten.

➡️ In dieser Hinsicht sind Mitglieder klar als Opfer psychischer Manipulation zu verstehen – nicht im juristischen, aber im psychologischen Sinn.

Zwei weitere Konzepte der psychologischen Forschung helfen, dieses Verhalten tiefer zu verstehen:

  • „Identification with the Aggressor“ (nach Sándor Ferenczi): Um psychischen Schmerz zu vermeiden, übernehmen Opfer die Perspektive und Verhaltensweise des Aggressors – in diesem Fall der Organisation. Dies dient zunächst dem Überleben, später der Aufrechterhaltung der inneren Stabilität.
  • „Traumatic Bonding“ (Traumabindung): Durch wechselnde Verstärkung – also Belohnung und Angst – entsteht eine emotionale Abhängigkeit an das System, die selbst dann bestehen bleibt, wenn der Betroffene darunter leidet. Dieses Muster wurde auch in den Studien von Irene Gasde & Richard Block (1998) sowie Daniel Shaw (2003) im Kontext religiöser Gruppierungen beschrieben.

Warum manchmal auch Täter?

1. Missionierung als existenzielle Pflicht

In vielen autoritären Glaubenssystemen hängt der Selbstwert der Mitglieder am Erfolg im Missionieren.
Wer nicht „im Dienst“ ist, wird entweder offen kritisiert – oder empfindet tiefe Schuld.

Dadurch entsteht ein innerer Zwang:

Ich bin nur wertvoll, wenn ich andere überzeuge.

Dieses psychologische Setting produziert einen permanenten Rechtfertigungsdruck – nach außen und innen.
Missionierung wird so zur unbewussten Kompensation eigener Zweifel.

2. Weitergabe der Kontrolle

Wer selbst über Jahre kontrolliert wurde, neigt dazu, diese Kontrolle weiterzugeben – etwa durch:

  • das Überwachen anderer in der Versammlung
  • das Melden von „Abweichlern“
  • das Abwerten Andersdenkender

Diese Muster sind kein Beweis für Bosheit – sondern typische Folge internalisierter Autorität (vgl. Milgram-Experiment).
Man tut „das Richtige“, weil man gelernt hat, dass Gehorsam Sicherheit bedeutet.

3. Emotional verletzendes Verhalten

Viele Mitglieder meiden Angehörige, die ausgestiegen sind.
Sie können auch bewusst emotionalen Druck auf Kinder, Partner oder Freund:innen ausüben – oft mit dem Ziel, sie „zurückzubringen“.

Der psychologische Hintergrund ist komplex:
Manche handeln aus echter Angst um das „ewige Leben“ anderer – andere aus innerem Konflikt zwischen familiärer Bindung und Systemloyalität.

➡️ In all diesen Fällen wird ein Mensch, der selbst manipuliert wurde, ungewollt zum Instrument der Manipulation.


Die entscheidende Perspektive

Die Frage „Opfer oder Täter?“ ist zu grob. Die Wahrheit liegt dazwischen – und sie ist nicht statisch, sondern bewegt sich auf einer psychologischen Waage. Entscheidend ist, in welcher Rolle man sich gerade befindet – und welchen Handlungsspielraum man (noch) hat.

Je tiefer jemand im System verankert ist, desto stärker überwiegt oft die Opferrolle. Doch je höher jemand in der internen Hierarchie aufsteigt, desto mehr wächst auch die Verantwortung. Wer mehr weiß, wer Strukturen mitträgt oder sie sogar verwaltet, übernimmt zunehmend eine aktive Rolle – und wird damit im Sinne der Struktur zum Täter.

Diese Sichtweise deckt sich mit zentralen Erkenntnissen der Sektenforschung:

  • Janja Lalich (2004) betont, dass Mitglieder mit wachsender systemischer Verstrickung mehr Verantwortung für ihre Handlungen tragen – insbesondere wenn sie beginnen, Kontrolle über andere auszuüben.
  • Daniel Shaw (2014) beschreibt die „traumatische Bindung an narzisstische Autoritäten“ als zentrales Merkmal destruktiver Gruppen – eine Dynamik, die Betroffene in die Rolle des „Aggressors“ drängen kann, ohne dass ihnen dies bewusst wird.
  • Steven Hassan (2019) erklärt in seinem BITE-Modell, wie autoritäre Systeme schrittweise die Entscheidungsfreiheit untergraben – und zeigt Wege, wie Individuen Verantwortung zurückgewinnen können.

Diese Übergänge sind fließend – aber sie verdienen Aufmerksamkeit. Denn mit wachsender Einsicht steigt auch die Verantwortung, sich der Dynamik zu entziehen – und womöglich anderen den Weg zu erleichtern.

Die Frage „Opfer oder Täter?“ ist zu grob. Die Wahrheit liegt dazwischen:

  1. Primär sind viele Mitglieder Opfer eines autoritären Systems, das emotionale, soziale und intellektuelle Kontrolle ausübt.
  2. Sekundär werden sie – ohne bewusste Absicht – zu Trägern dieser Ideologie, ja sogar zu Verteidigern der Machtstrukturen.
  3. Moralische Verantwortung ist deshalb stark relativiert, solange emotionale Abhängigkeit, soziale Isolation und systematische Indoktrination wirksam sind.

Stimmen von Aussteigern (sinngemäß)

„Ich habe Dinge getan, die ich heute zutiefst bereue. Aber damals war ich überzeugt, dass es richtig war.“

„Ich habe meine Schwester gemieden. Heute wünschte ich, ich hätte den Mut gehabt, selbst zu denken.“

„Ich dachte wirklich, dass ich Gott diene – und habe dabei das Menschliche verloren.“


Fazit: Systemkritik statt Schuldprojektion

Menschen, die tief in einem geschlossenen religiösen System leben, sind nicht primär Schuldige – sondern Betroffene eines strukturellen Missbrauchs, der sich über Jahrzehnte erstreckt.
Sie brauchen kein Mitleid – sondern Raum zur Selbstreflexion, Zugang zu anderen Perspektiven und eine Sprache, die differenziert.

Wer die Mechanismen versteht, wird nicht härter – sondern klarer:

Kritisiere das System, aber nicht den Menschen, der darin gefangen war.


Zum Schluss: Mut zur Versöhnung mit sich selbst!

Wenn du selbst einmal überzeugt warst, andere für die Zeugen Jehovas gewonnen zu haben – vielleicht sogar Menschen, die dir nahestehen – und du diesen Weg heute bereust: Du bist nicht allein. Viele, die das System verlassen haben, tragen schwere innere Lasten.

Doch Schuldgefühle dürfen nicht dein letzter Begleiter sein. Was damals geschah, geschah unter dem Einfluss einer Ideologie, die systematisch Angst und Abhängigkeit erzeugt. Die Reue, die du heute fühlst, zeigt gerade das: Dein Gewissen ist lebendig – dein Denken frei.

Es ist nie zu spät, Verantwortung neu zu definieren: Nicht als Last, sondern als Chance. Vielleicht kannst du anderen helfen, aufzuwachen. Vielleicht reicht auch schon dein stilles Beispiel. Und manchmal beginnt Heilung damit, dass du dir selbst vergibst. Denn Einsicht ist kein Makel – sie ist der Beginn von Freiheit.

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