Das Jahr 1914 ist das zentrale Fundament der Lehre der Zeugen Jehovas. Auf ihm basiert die Behauptung, dass Jesus seitdem im Himmel regiert – und dass 1919 die „Leitende Körperschaft“ als exklusiver Kanal Gottes ausgewählt wurde. Doch die Berechnung beruht auf einer historisch widerlegten Datierung der Zerstörung Jerusalems (607 v. Chr. statt 587 v. Chr.). Auch die Auslegung von Daniels Traum und Jesu Worten in Lukas 21 ist theologisch fragwürdig. Besonders absurd: Nebukadnezar soll ein Bild für Christus sein. Weil die Lehre zu 1914 für die Legitimation der Organisation essenziell ist, wird sie gegen jede Faktenlage verteidigt – bis hin zu kuriosen Konstruktionen wie der „überlappenden Generation“. Eine ehrliche Prüfung offenbart: Das Konstrukt ist nicht göttlich, sondern organisatorisch notwendig.
Ich werde mich bei dieser Auseinandersetzung mit den Lehren der Zeugen Jehovas bewusst auf solche Aussagen konzentrieren, die sich mit biblischen, historischen oder logischen Argumenten sachlich widerlegen lassen – ohne dabei in persönliche oder spekulative Interpretationen abzudriften.
Warum ist das Jahr 1914 so wichtig für die Zeugen Jehovas?
Kurz gesagt: Wenn das Jahr nicht stimmt, wankt die gesamte Legitimation ihrer Führung – und das ideologische Kartenhaus würde in sich zusammenbrechen. Deshalb muss immer wieder etwas Neues, Kreatives oder Umdeutendes konstruiert werden, um diese Zahl aufrechtzuerhalten koste es, was es wolle.
Umfassend erklärt: Daniels Prophezeiung der „Sieben Zeiten“ ist die essentielle Grundlage, auf der das gesamte Lehrgebäude der Zeugen Jehovas ruht. Aus ihr leitet die Organisation ab, dass Jesus Christus 1914 zu regieren begann und dass er 1919 die „Leitende Körperschaft“ der Zeugen Jehovas als seinen exklusiven Kanal zur Menschheit auswählte. Diese Ereigniskette ist für die Glaubensstruktur so bedeutend, dass jede Infragestellung des Ausgangsjahres 1914 die Legitimität der gesamten Organisation erschüttert.
Nach Auffassung der Führung der Wachtturm-Gesellschaft wurde Jesus also 1914 im Himmel zum König gekrönt. In der Folge soll es zu einem Krieg im Himmel gekommen sein, bei dem Satan zur Erde geschleudert wurde – in der Lehre der Zeugen Jehovas die Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Trotz der Tatsache, dass dieser Konflikt historisch gesehen nicht der verlustreichste der Menschheitsgeschichte war, gilt er in der offiziellen Lehre als Beleg für den Beginn der „Zeit des Endes“.
Basierend auf dieser Auslegung soll Jesus ab 1918 eine Sichtung aller christlichen Religionsgemeinschaften vorgenommen haben, woraufhin er 1919 die damaligen Bibelforscher unter Leitung von Joseph F. Rutherford als einzig wahre Organisation auswählte – ein Konzept, das durch den Begriff des „treuen und verständigen Sklaven“ aus Matthäus 24:45-47 theologisch begründet wird.
Quelle: z.B. Der Wachtturm, 15. März 1990, S. 10–14
Warum 1914? Die Berechnungsgrundlage
Kaum ein Zeuge Jehovas kann die Berechnungsgrundlage für das Jahr 1914 tatsächlich erklären. Dabei ist sie keineswegs trivial – und schon gar nicht unumstritten. Ursprünglich rechnete man wie folgt:
Man ging von einer „Zeitraum der Heiden“ genannten prophetischen Phase aus, die angeblich 2520 Jahre dauern sollte (abgeleitet aus den „sieben Zeiten“ in Daniel 4).
Dieser Zeitraum sollte mit der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier beginnen.
Man nahm dafür zunächst fälschlich das Jahr 606 v. Chr. an, später 607 v. Chr.
Addiert man 2520 Jahre und berücksichtigt, dass es kein Jahr „Null“ gibt, landet man bei 1914.
Die Zerstörung Jerusalems ist aber nach heutigem Stand der Geschichtswissenschaft eindeutig auf das Jahr 587 v. Chr. zu datieren.
607 v. Chr. oder 587 v. Chr.?
hr 587 v. Chr. Zahlreiche archäologische, astronomische und historische Quellen belegen dies:
Keilschrifttafel BM 32312 dokumentiert eine exakte Saturnposition und datiert die Ereignisse auf 587 v. Chr.
VAT 4956, die von der WTG zur Unterstützung von 607 v. Chr. herangezogen wird, wurde mehrfach wissenschaftlich widerlegt.
Die ägyptische Chronologie der 26. Dynastie stimmt mit der Neubabylonischen überein – und beide belegen 587 v. Chr.
Weitere Quellen wie die Archive von Erech und astronomische Berechnungen bestätigen das.
Trotz dieser Faktenlage hält einzig die Führung der Wachtturm-Gesellschaft an 607 v. Chr. fest, da andernfalls ihre gesamte Endzeit-Chronologie kollabieren würde.
Exegese von Daniel 4 und Lukas 21 – Eine zweite Erfüllung?
Wie kommt die Leitende Körperschaft eigentlich zu der zentralen Behauptung, Gottes Königreich regiere seit 1914?
Wer das Erklärungsvideo „Königreich regiert seit 1914“ auf JW.org ansieht (ca. Minute 1 ff.), wird feststellen: Grundlage ist die Deutung eines Traumes von König Nebukadnezar aus Daniel Kapitel 4. Dieser handelt ursprünglich von der Demütigung eines babylonischen Herrschers, der – nach göttlicher Anordnung – für „sieben Zeiten“ den Verstand verliert und wie ein Tier lebt. Die Zeugen Jehovas behaupten nun, dieser Traum habe eine zweifache Erfüllung: Zunächst an Nebukadnezar selbst, dann – in einer prophetischen Parallelbedeutung – an einem Zeitraum von 2.520 Jahren, in dem Gottes Königreich „unterbrochen“ sei, bis es 1914 in Jesus Christus wieder aufgerichtet werde.
Doch worauf stützt sich diese weitreichende Deutung?
Im Video wird Daniel 4:17 (bzw. 4:14 in anderen Zählungen) als vermeintlicher Schlüsselvers genannt:
„… damit die Lebenden erkennen, dass der Höchste Herrscher über die Königreiche der Menschen ist und dass er sie gibt, wem er will…“
Das klingt zweifellos feierlich – aber von einer zweiten Erfüllung steht hier nichts. Auch Daniel selbst, der dem König später die Deutung erklärt, spricht ausschließlich von einem einmaligen Ereignis. Im masoretischen Urtext (Daniel 4:14) heißt es lediglich:
„… damit die Lebenden erkennen, dass der Allerhöchste über das Königtum der Menschen herrscht und es gibt, wem er will, sogar den Niedrigsten der Menschen darüber setzt.“
Von einem endzeitlichen König, einem symbolischen Zeitraum oder der Parallele zu Jesus – keine Spur.
Die Verbindung zu Lukas 21:24
In Minute 3:16 des Videos wird plötzlich ein Sprung ins Neue Testament gemacht – zu Lukas 21:24, wo Jesus sagt:
„Jerusalem wird von den Nationen zertreten werden, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind.“
Hier wird behauptet, die „sieben Zeiten“ in Daniel 4 seien identisch mit den „Zeiten der Nationen“ bei Lukas. Doch diese Gleichsetzung ist exegetisch vollkommen unbegründet. Der Ausdruck „Zeiten der Nationen“ ist ein neutestamentlicher Begriff ohne direkten Rückbezug auf Daniels Tier-Vision oder Nebukadnezars Strafe. Zudem fehlen sowohl im griechischen Urtext als auch in der frühchristlichen Auslegung jegliche Hinweise auf eine Verbindung.
Urtext: Lukas 21: 24 „Und sie werden durch die Schärfe des Schwertes fallen und in die Gefangenschaft aller Nationen geführt werden. Und Jerusalem wird von den Nationen zertreten werden, bis die Zeitalter der Nationen erfüllt sind.Daniel 4:23 Und da sah der König einen heiligen Wecker, der vom Himmel herabstieg und sprach: Schlage die Eiche nieder und verletze sie, aber der Stumpf mit seinen Wurzeln bleibt in der Erde, festgeklammert mit einem Band aus Eisen und Kupfer im Grünen das Feld. Und er soll benetzt werden
Und wer ist nun Nebukadnezar in dieser Logik?
Nach der Deutung der Zeugen Jehovas steht:
das babylonische Weltreich für Gottes Königreich,
und Nebukadnezar, ein heidnischer, blutrünstiger König, für Jesus Christus.
Das ist nicht nur historisch problematisch – es ist theologisch absurd. Warum sollte Gott einem König, der Sein Volk verfolgt, die Zukunft des Messias-Königreichs offenbaren?
Fazit: Das fragile Kartenhaus der Endzeit-Zeitrechnung
Die Führung der Zeugen Jehovas ist zwingend auf 1914 angewiesen. Ohne 1914 gäbe es kein 1919. Ohne 1919 keinen „treuen und verständigen Sklaven“. Ohne diesen fehlt jegliche Legitimation für die exklusive Autorität der Leitenden Körperschaft.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass Kritik an der 1914-Lehre hart sanktioniert wird auch wenn sie wissenschaftlich mehr als begründet ist. Wer sich mit Geschichte, Archäologie und Bibelauslegung befasst, erkennt schnell: Die Lehre ist kein Ergebnis göttlicher Offenbarung, sondern ein Produkt apologetischer Notwendigkeit.
„Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die meinen, sie gefunden zu haben.“ — André Gide
Der Elefant im Raum..
„Aber der größte Elefant steht ja sogar noch im Raum.“ Ein altes russisches Sprichwort beschreibt damit ein offensichtliches Problem, das allen bekannt ist – über das jedoch niemand sprechen will. Im Fall der Zeugen Jehovas ist dieser „Elefant“ die Lehre von der Generation, die das Jahr 1914 erlebt haben soll und nicht vergehen wird.
In Matthäus 24,34 sagt Jesus:
„Wahrlich, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist.“
Diesen Vers deutete die Wachtturm-Gesellschaft über viele Jahrzehnte hinweg eindeutig: Die Generation, die das Jahr 1914 erlebt hat, wird nicht vergehen, bevor das Ende kommt. Diese Lehre war lange ein fester Bestandteil der Verkündigung und wurde in Publikationen, Vorträgen und Broschüren wiederholt und betont.
Doch inzwischen ist die Realität unübersehbar: Die letzte Generation von 1914 ist verstorben. Niemand, der bewusst Zeuge dieses Jahres war, lebt heute noch. Damit stellt sich die Frage: Was bedeutet „diese Generation“ jetzt?
Die überlappende Generation – eine theologische Notlösung?
Um diese offensichtliche Diskrepanz zu überbrücken, entwickelte die Organisation in den letzten Jahren die sogenannte „Lehre von der überlappenden Generation“. Demnach besteht „diese Generation“ aus zwei Gruppen von Gesalbten, die sich zeitlich überschneiden müssen – also: Wer zur ersten Gruppe gehörte, muss den Beginn der zweiten noch erlebt haben.
Diese Idee ist nicht nur biblisch unbelegt, sondern erinnert in ihrer Konstruktion auffällig an das sogenannte Overlapping-Generations-Modell aus der Volkswirtschaftslehre – allerdings wird es hier völlig zweckentfremdet und fehlerhaft angewandt. Als Wirtschaftswissenschaftler fällt mir besonders auf, wie spekulativ und argumentativ lückenhaft diese Analogie ist.
Das offizielle Erklärungsvideo von David Splane, einem Mitglied der Leitenden Körperschaft, wirkt dabei eher bemüht als überzeugend: zu finden auf der Seite der Zeugen Jehovas JW.org
Die Konstruktion könnte – logisch weitergedacht – endlos fortgesetzt werden: Die überlappende Generation einer überlappenden Generation, die wiederum eine andere überlappt. So lässt sich „diese Generation“ theoretisch beliebig verlängern – und verliert damit jede biblische Verankerung.
Frühe Aussagen: „Du wirst nie alt werden …“
Diese Strategie der flexiblen Endzeiterwartung ist nicht neu. In Erwachet! vom 22. Mai 1969 hieß es noch:
„Wenn Sie ein junger Mensch sind, müssen Sie sich auch der Tatsache stellen, dass Sie im gegenwärtigen System der Dinge niemals alt werden.“
Diese Worte richteten sich an Jugendliche – die heute im Rentenalter sind.
Schon in Charles T. Russells Buch Die Harfe Gottes heißt es: ‚Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben.‘“
Warum 1914 nicht aufgegeben werden kann
Die Wachtturm-Gesellschaft kann das Jahr 1914 nicht aufgeben, ohne ihr gesamtes theologisches Gebäude zu gefährden. Denn:
1914 markiert den Beginn der Königsherrschaft Jesu,
daraus wird 1918 die angebliche Inspektion aller christlichen Gruppen abgeleitet,
und schließlich 1919 die Auswahl der Zeugen Jehovas als Gottes exklusiven Kanal – vertreten durch den „treuen und verständigen Sklaven“ also die Legitimation ihre Führung!
Würde das Jahr 1914 wegfallen, verliert die Organisation ihre theologische Sonderstellung. Ihre Autorität, ihr Führungsanspruch, ihre Lehre vom „Sklaven“ – alles basiert auf dieser Zeitrechnung.
Rechtlicher Hinweis: Dieser Beitrag dient der journalistischen und theologisch fundierten Auseinandersetzung mit öffentlich dokumentierten Vorgängen der Wachtturm-Gesellschaft. Alle Zitate dienen der kritischen Analyse gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht). Alle genannten Gruppennamen und Begriffe sind eingetragene Bezeichnungen der jeweiligen Organisationen und werden hier ausschließlich im Rahmen zulässiger Berichterstattung nach § 50 UrhG und § 5 GG verwendet.
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