Warum ein mosaisches Prinzip zur Verhinderung von Gerechtigkeit wurde – und was biblisch wirklich gelten sollte
Einleitung – Die stille Macht der Zahl Zwei
In der Welt der Zeugen Jehovas gibt es keine Rechtsanwälte.
Keine Geschworenen. Keine Ermittlungsbehörden.
Aber es gibt ein Prinzip. Es steht über allem. Es entscheidet, ob etwas als „wahr“ gilt – oder als nichtig:
„Zwei Zeugen.“
Was zunächst klingt wie ein vernünftiges Schutzinstrument gegen Verleumdung, wird in der internen Rechtspraxis der Organisation zur Grenze zwischen Anerkennung und Verleugnung.
Zwischen Maßnahme – und Schweigen.
Zwischen Glauben – und Gaslighting.
In diesem Beitrag geht es nicht darum, diese Regel zum Hauptfeind zu machen.
Denn das größere Problem ist ein anderes:
Die Kultur des Nicht-Hinschauens, genährt durch religiöse Schamlogik, systemische Selbstabschottung und den tief verinnerlichten Satz:
„Bringt keine Schmach auf Jehovas Namen.“
Aber genau deshalb muss das Prinzip der Zwei Zeugen in seiner religiösen Begründung, in seiner Anwendung – und in seiner ethischen Verfehlung gründlich analysiert werden.
1. Der offizielle Standpunkt der Zeugen Jehovas
Die Zwei-Zeugen-Regel wird in der Theokratie der Zeugen Jehovas nicht als historische Regel verstanden – sondern als zeitlos gültiges, göttlich abgesichertes Prinzip der Gerechtigkeit.
Grundlage ist 5. Mose 19:15:
„Ein einzelner Zeuge darf nicht gegen jemanden auftreten wegen irgendeiner Schuld oder Sünde, die er begangen haben mag. Die Aussage von zwei oder drei Zeugen ist nötig, um eine Sache zu bestätigen.“
In der Praxis bedeutet das:
- Kein Ausschluss wegen schwerer Sünde ohne zwei Augenzeugen.
- Kein Glauben an das Opfer, wenn es allein aussagt.
- Kein Hinweis an die Versammlung – der Ruf des Täters bleibt unangetastet.
- Keine Pflicht zur Meldung an Behörden, sofern nicht gesetzlich vorgeschrieben.
Im Ältestenbuch „Hütet die Herde Gottes“ (Ausgabe 2012) heißt es explizit:
„Es muss zwei oder mehr Augenzeugen geben, nicht nur jemand, der wiedergibt, was er gehört hat. Gibt es nur einen Zeugen, wird kein Rechtskomitee gebildet.“
(Kap. 12, Abs. 40)
Und weiter:
„Von einem Opfer von Vergewaltigung oder sexuellem Kindesmissbrauch fordert man niemals, den Beschuldigten anzusprechen.“
(Kap. 12, Abs. 41)
Diese Formulierungen wirken zunächst sensibel – doch der eigentliche Schutz bleibt formgebunden, nicht inhaltsorientiert.
Denn auch wenn ein Opfer glaubwürdig ist, verpufft seine Aussage ohne Bestätigung durch einen weiteren Augenzeugen.
Es wird „Jehova überlassen“.

2. Der strukturelle Fehler: Die Gerechtigkeit wird formalisiert – das Leid individualisiert
Die Zeugen Jehovas bezeichnen sich selbst als „wahre Christen“.
Doch ihre interne Rechtsauffassung beruft sich auf ein Verssystem aus dem mosaischen Strafrecht, das nicht nur historisch, sondern auch theologisch abgelöst wurde.
„Das Gesetz und die Propheten gingen bis auf Johannes.“ (Lukas 16:16)
„Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Gesetz.“ (Galater 3:25)
Die Zwei-Zeugen-Regel als dogmatische Instanz ins 21. Jahrhundert zu verlängern, ist nicht biblisch, sondern funktional.
Sie schützt weniger vor falscher Anklage – als vielmehr die Unantastbarkeit des inneren Systems.
Das Leid des Einzelnen wird entpersonalisiert – in eine Bedingung verwandelt: „Beweise es – oder schweige.“
Doch in der Praxis geht es um etwas anderes.
Nicht nur um fehlende Zeugen.
Sondern darum, dass die Erhebung der Stimme selbst als Risiko gilt.
3. Das größere Problem: Die Angst, „Jehova Schmach zu bereiten“
Es ist nicht die Zwei-Zeugen-Regel allein, die Missbrauch verdeckt.
Es ist das Klima aus Angst und Loyalität, das wie eine zweite Haut wirkt.
Immer mitschwingt. Immer mitformt, was gesagt werden darf – und was lieber nicht.
Familien berichten, dass ihnen davon abgeraten wurde, zur Polizei zu gehen – nicht weil der Vorwurf unglaubwürdig war, sondern weil eine Anzeige „die Wahrheit in Misskredit bringen“ könnte.
Diese Kultur der organisierten Schamabwehr erzeugt kein Schutzschild für die Opfer, sondern für das Bild der Organisation.
Ein Opfer, das spricht, riskiert nicht nur Ablehnung – sondern die Destabilisierung der gesamten familiären Struktur.

4. Der biblische Gegenbeweis: Auch im mosaischen Gesetz war Differenzierung möglich
Die Berufung auf 5. Mose 19:15 wirkt auf den ersten Blick wasserdicht.
Doch das mosaische Gesetz selbst kannte Ausnahmen.
Und gerade dort, wo es um Sexualverbrechen geht, zeigt die Bibel bemerkenswerte Differenzierung:
5. Mose 22:25–27:
„Wenn der Mann das Mädchen im freien Feld antrifft und sie vergewaltigt […], so soll nur der Mann sterben […], denn sie hat geschrien, aber es war kein Helfer da.“
Das bedeutet: Die Aussage des Opfers allein genügte.
Es wurde nicht verlangt, dass ein zweiter Zeuge den Übergriff bestätigen musste.
5. Mose 25:11–12 – ein fast vergessener Schlüsselvers:
„Wenn zwei Männer miteinander raufen und die Frau des einen greift nach dem anderen und erfasst ihn bei den Geschlechtsteilen, dann sollst du ihr die Hand abhauen.“
So bizarr der Text wirkt – er belegt etwas Entscheidendes:
- Es handelt sich um eine sexuell konnotierte Handlung.
- Es erfolgt sofortige Sanktion – ohne die Anforderung von zwei Zeugen.
Selbst im alttestamentlichen System wurde der Kontext gewichtet – nicht die formale Zeugenzahl.
Damit bricht das Argument der WTG in sich zusammen.
Die Zwei-Zeugen-Regel war selbst in Mose Zeiten kein starres Dogma, sondern ein Instrument unter vielen – und in entscheidenden Fällen ausgesetzt.
5. Der Neue Bund: Verantwortung statt Formalismus
Im Neuen Testament begegnet Jesus Menschen nicht mit Regelsätzen, sondern mit Verantwortungsethik.
Er fragt nicht: „Wie viele Zeugen?“, sondern:
„Was hast du dem Geringsten getan?“ (vgl. Matthäus 25)
Der Apostel Paulus fordert in Epheser 5:11:
„Habt nichts gemein mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis – sondern deckt sie auf.“
Nicht: Beweist sie mit zwei Zeugen – sondern:
Bringt sie ans Licht.
Das ist die Aufgabe einer christlichen Gemeinschaft:
Nicht formale Integrität – sondern moralische Redlichkeit.
Nicht Schutz der Struktur – sondern Schutz der Schwachen.
Schlussfolgerung: Zwei Zeugen – ein Systemfehler
Die Zwei-Zeugen-Regel ist kein biblisches Dogma.
Sie ist ein juristischer Schutzschild, der innerhalb eines Systems funktioniert, das sich mehr um seinen Ruf sorgt als um die Gerechtigkeit.
Sie erzeugt Schweigen. Und sie begünstigt Täter – unter dem Deckmantel göttlicher Ordnung.
Was sie verhindert, ist nicht Falschanklage –
sondern Hoffnung. Heilung. Würde.
Wer an Christus glaubt, braucht keine zwei Zeugen.
Er braucht Mut.
Und eine Gemeinschaft, die ihn nicht fragt: „Hast du Beweise?“
Sondern:
„Was ist dir geschehen?“
Rechtlicher Hinweis:
Dieser Beitrag enthält eine theologische und rechtsvergleichende Analyse, die sich kritisch mit der Auslegung biblischer Prinzipien durch die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas auseinandersetzt. Alle genannten Bibelstellen sind entweder aus gemeinfreien Übersetzungen zitiert oder paraphrasiert. Zitate aus offiziellen Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft (z. B. Der Wachtturm) erfolgen gemäß § 51 UrhG (Zitatrecht) zu Zwecken der Auseinandersetzung, Kritik und Aufklärung. Alle Aussagen über Lehren und Praktiken der Zeugen Jehovas beruhen auf öffentlich zugänglichen Quellen und stellen eine Meinungsäußerung im Sinne von Art. 5 GG dar. Diese Analyse erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll zur freien Meinungsbildung und zum besseren Verständnis theologischer, ethischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge beitragen.