Studie: Grieving the Living: The Social Death of Former Jehovah’s Witnesses (Trauer um die Lebenden: Der soziale Tod ehemaliger Zeugen Jehovas)

Grieving the Living: The Social Death of Former Jehovah’s Witnesses – PDF

Grieving the Living: The Social Death of Former Jehovah’s Witnesses – Edge Hill University

Sozialer Tod und Identitätsverlust – Eine qualitative Studie über den Ausstieg aus den Zeugen Jehovas

Zusammenfassung der Studie: Heather J. Ransom, Rebecca L. Monk, Derek Heim (2021), Journal of Religion and Health

Einleitung

Die Studie „Grieving the Living“ untersucht die psychischen, sozialen und identitätsbezogenen Auswirkungen eines Austritts aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas (ZJ). Dabei liegt der Fokus auf dem Erleben von sozialem Ausschluss („shunning“), dem Verlust familiärer Bindungen und der oft tiefgreifenden Identitätskrise ehemaliger Mitglieder. Im Zentrum steht die Frage, wie Menschen den Übergang vom Leben innerhalb der Organisation hin zu einem autonomen, post-religiösen Selbst vollziehen – und welche Rolle soziale Unterstützung und der Modus des Austritts dabei spielen.


Methodik

Die Untersuchung basiert auf tiefenpsychologischen Interviews mit sechs ehemaligen Mitgliedern der Zeugen Jehovas aus Großbritannien, im Alter zwischen 25 und 72 Jahren. Die Datenerhebung erfolgte mittels interpretativer phänomenologischer Analyse (IPA), welche sich mit der subjektiven Sinnstiftung existenzieller Erfahrungen beschäftigt. Alle Teilnehmenden berichteten von einer klaren Form des Ausschlusses oder der Dissoziierung – faktisch immer verbunden mit sozialer Isolation durch die eigene Familie und das frühere Umfeld.


Zentrale Ergebnisse

1. Identität und Zugehörigkeit

Die Studie zeigt, dass der Verlust der religiösen Zugehörigkeit mit einem massiven Bruch der Selbstwahrnehmung einhergeht. Besonders stark betroffen sind Personen, die in die Organisation hineingeboren wurden – sie erlebten sich nach dem Ausschluss häufig als „niemand“ oder „unsichtbar“. Der Begriff „Identität“ war für viele vollständig über die Organisation definiert.

Auffällig war der Unterschied zwischen jenen, die freiwillig gingen, und jenen, die diszipliniert ausgeschlossen wurden. Letztere beschrieben ihre Erfahrung häufig als „Entmenschlichung“ und „Auslöschung des Selbst“. Freiwillig Ausgetretene, insbesondere Konvertiten, konnten hingegen eher auf vorbestehende Identitätsanteile zurückgreifen und sich rascher neu orientieren.

„Es ist, als ob man in einem Boot auf dem Ozean treibt, völlig allein – ohne Rettung in Sicht.“ (Teilnehmerin Claire)


2. Depersonalisierung und Gehorsam

Die Erzählungen machen deutlich, dass das System der Zeugen Jehovas eine tiefe Verinnerlichung von Gehorsam und Schuld erzeugt. Wer ausgeschlossen wird, erlebt nicht nur Ablehnung von außen, sondern oft auch Selbstverachtung, verbunden mit starken Ängsten vor „Harmagedon“, Gottes Strafe oder geistigem Verderben. Das Gefühl, „unrein“ oder „verdorben“ zu sein, prägte besonders jene, die an die Lehren weiterhin glaubten oder diese erst allmählich infrage stellten.

Mehrere Teilnehmer:innen berichteten über Suizidgedanken, Selbstverletzung oder psychosomatische Symptome wie Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit und Depressionen. Eine Teilnehmerin machte den Ausschluss für den Suizid ihres Sohnes mitverantwortlich, ein anderer sprach von einem „mentalen Zusammenbruch“ nach dem Bruch mit der Organisation.


3. Der soziale Tod

Besonders prägend war das Erleben eines sozialen Todes: Der plötzliche Verlust sämtlicher sozialer Bindungen – zu Eltern, Kindern, Geschwistern, Freunden – wurde wiederholt mit dem Bild eines Flugzeugabsturzes verglichen, den nur man selbst überlebt:

„Stell dir vor, deine ganze Familie stirbt in einem Flugzeugabsturz – nur dass sie nicht tot sind, sondern dich lebendig aus ihrem Leben gelöscht haben.“ (Teilnehmerin Sue)

Dieser Verlust war in vielen Fällen nicht zu betrauern oder zu verarbeiten, da die betreffenden Personen weiterhin lebten, jedoch konsequent den Kontakt verweigerten.


4. Online-Communities als Schutzfaktor

Ein Hoffnungsschimmer zeigte sich bei jenen, die in Online-Foren oder Ex-ZJ-Selbsthilfegruppen Anschluss fanden. Diese Gruppen boten Raum für gegenseitiges Verständnis, narrative Verarbeitung und neue soziale Zugehörigkeit. Besonders wertvoll war das Teilen der eigenen Geschichte und das Gehörfinden bei Menschen mit ähnlichen Erfahrungen.


Diskussion

Die Studie ordnet das Erleben ehemaliger Zeugen Jehovas in einen größeren soziopsychologischen Kontext ein und vergleicht die Erfahrungen mit denen von Menschen, die aus Suchtmilieus oder kriminellen Netzwerken aussteigen. Auch hier ist der Aufbau einer neuen Identität innerhalb stabiler sozialer Gruppen entscheidend für eine gesunde Verarbeitung.

Ein weiteres relevantes Konzept ist das der „ambiguen Trauer“: Die betroffenen Personen trauern um geliebte Menschen, die zwar physisch am Leben sind, aber aus ihrem Leben verschwunden bleiben. Diese Form der Trauer ist schwerer zu verarbeiten, da sie ohne Abschluss bleibt – eine Situation, die für viele Aussteiger:innen aus hochkontrollierenden religiösen Gruppen typisch ist.


Fazit

Die Studie kommt zu folgenden zentralen Schlussfolgerungen:

  • Der Ausstieg aus den Zeugen Jehovas ist in der Regel mit sozialer Ächtung, Identitätsverlust und massiver psychischer Belastung verbunden.
  • Besonders gefährdet sind Menschen, die in die Organisation hineingeboren wurden und durch Ausschluss ihre gesamte soziale Welt verlieren.
  • Freiwillige Austritte, insbesondere in Begleitung nahestehender Personen, können stabilisierend wirken.
  • Online-Communities und neue soziale Gruppen können den Identitätswandel unterstützen und depressive Symptome lindern.
  • Die Autor:innen plädieren für mehr Forschung, öffentliche Aufklärung und psychosoziale Unterstützungssysteme für religiöse Aussteiger:innen.

Quellenangabe

Ransom, H. J., Monk, R. L., & Heim, D. (2021). Grieving the Living: The Social Death of Former Jehovah’s Witnesses. Journal of Religion and Health, 61(3), 2458–2480. https://doi.org/10.1007/s10943-020-01156-8

Rechtlicher Hinweis

Dieser Beitrag enthält eine inhaltlich zusammengefasste und kommentierte Darstellung der wissenschaftlichen Studie:

Heather J. Ransom, Rebecca L. Monk, Derek Heim (2021): Grieving the Living: The Social Death of Former Jehovah’s Witnesses, in: Journal of Religion and Health, 61(3), S. 2458–2480, DOI: 10.1007/s10943-020-01156-8

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