Kognitionskontrolle, Kritikverbot, Selbstzensur, Gaslighting durch Sprache

Wachtturm -Studienausgabe Oktober 2022, S. 21

10.Was schützt uns davor, ein Spötter zu werden? Halten wir uns von Personen fern, die eine kritische Einstellung haben. Das schließt ein, Abtrünnigen nicht zuzuhören und auch nichts von ihnen zu lesen. Wenn wir nicht aufpassen, könnten wir leicht eine kritische Haltung entwickeln und anfangen, an Jehova und den Anweisungen seiner Organisation zu zweifeln. Damit uns das nicht passiert, wäre es gut, uns zu fragen: „Liegt mir oft eine negative Bemerkung auf der Zunge, wenn wir neue Anweisungen oder Erklärungen erhalten? Neige ich dazu, bei den verantwortlichen Brüdern Fehler zu suchen?“ Jehova freut sich, wenn wir solchen Tendenzen schnell gegensteuern.

Psychologische Wirkung: Kognitionskontrolle

Dieser Textausschnitt ist ein klassisches Beispiel für kognitive Abschottung, wie sie in geschlossenen Glaubenssystemen häufig zu beobachten ist:

  • Kritikverbot: Jede Form von Kritik – selbst leise Zweifel oder Reflexion – wird nicht als Teil eines geistigen Reifeprozesses verstanden, sondern als gefährlich, ja, als Einfallstor des Bösen.
  • Selbstzensur: Die Formulierung „liegt mir oft eine negative Bemerkung auf der Zunge?“ appelliert direkt an die Selbstkontrolle – nicht nur des Handelns, sondern auch des Denkens.
  • Gaslighting durch Sprache: Wer eine „kritische Einstellung“ zeigt, stellt sich laut Organisation nicht nur gegen Menschen, sondern gegen Jehova selbst.

Ideologisches Ziel: Immunisierung gegen Aufklärung

  • Der Begriff „Abtrünniger“ wird zur Kategorie für jede abweichende Meinung – unabhängig vom Wahrheitsgehalt oder Motiv. So wird jede abweichende Stimme pauschal delegitimiert.
  • Das Verbot, „etwas von ihnen zu lesen“, zielt darauf ab, jegliche Informationsfreiheit zu unterbinden. Es ist eine implizite Anerkennung der Tatsache, dass gut begründete Kritik gefährlich wirksam sein könnte, wenn sie gelesen würde.

Rechtliche Einordnung:

Die Formulierung ist aus juristischer Sicht von der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) gedeckt, solange sie nicht mit nachweisbarem psychischen oder sozialen Zwang durchgesetzt wird. Doch im Kontext sozialer Ächtung, Gemeinschaftsentzug und familiärer Trennung kann dies im Einzelfall den Tatbestand der Nötigung oder emotionalen Erpressung berühren – insbesondere, wenn systematisch Einfluss auf Entscheidungen zur Kontaktvermeidung, Berufsausübung oder Kindeserziehung genommen wird.

Theologisch fragwürdig:

Die Bibel fordert zwar an mehreren Stellen dazu auf, sich vor falschen Lehrern zu hüten – jedoch:

  • 1. Thessalonicher 5,21: „Prüft alles, das Gute behaltet.“
  • Apostelgeschichte 17,11 lobt die Beröer dafür, dass sie „täglich in der Schrift forschten, ob sich’s so verhielte“.

Die pauschale Ablehnung jeder kritischen Auseinandersetzung widerspricht damit dem biblischen Ideal eines eigenverantwortlichen Glaubens.


Fazit:

Dieser Absatz ist ein Paradebeispiel für die Rhetorik totalitärer Glaubenssysteme:

Nicht das Denken ist gefährlich – sondern das eigenständige Denken.
Der Satz ist in seiner Wirkung nicht spirituell, sondern soziologisch wirksam: Er dient der Sicherung innerer Geschlossenheit, nicht der Wahrheitssuche.